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Ein erster kleiner Schritt nach zehn Jahren

Nach Inkrafttreten der sogenannten Fahrradnovelle Ende vergangenen Jahres hat sich für Radfahrer in Berlin einiges geändert: Einbahnstraßen wurden freigegeben und die Radwegebenutzungspflicht gelockert. Verkehrsexperten reicht das noch nicht  ■ Von Volker Wartmann

Wer Extremsport betreiben will, muß sich in Berlin nur auf sein Fahrrad setzen und im Straßenverkehr auf seine Rechte als gleichberechtigter Verkehrsteilnehmer pochen – der Thrill ist garantiert. Alltag im Leben Berliner Radfahrer: Ein Autofahrer fährt mit einem Abstand von wenigen Zentimetern an einem Radler vorbei und mault ihn dann an der nächsten Ampel noch an, weil dieser auf der Straße fährt, obwohl auf dem Gehweg ein Radweg markiert ist. Zu vielen Autofahrern ist noch nicht durchgedrungen, daß die Benutzung der Straße in den meisten Fällen des Radfahrers gutes Recht ist. Seit Inkrafttreten der sogenannten Fahrradnovelle am 1. Oktober letzten Jahres sind Radwege nur noch dann benutzungspflichtig, wenn sie beschildert sind und gewisse Mindeststandards erfüllen. Ist ein Radweg nicht beschildert, kann der Radfahrer wählen, ob er auf dem Radweg oder lieber auf der Straße fahren möchte.

Weit mehr als die Hälfte aller Berliner Radwege ist seit letztem Herbst nicht mehr benutzungspflichtig. Hierbei handelt es sich überwiegend um Radwege an weniger wichtigen Straßen. Auf den stärker frequentierten Strecken in der Innenstadt und vor den großen Kreuzungen haben Radfahrer dagegen meist keine Wahlfreiheit: Durch Beschilderung werden hier die meisten Radwege als benutzungspflichtig ausgewiesen, obwohl sie oftmals die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestqualitätskriterien wie 1,5 Meter Mindestbreite und ordentliche Beschaffenheit der Fahrbahnoberfläche nicht erfüllen. Dabei kommt es gerade an großen Kreuzungen aufgrund schlechten oder fehlenden Sichtkontakts zwischen Radlern und Autofahrern zu den vielen tödlichen Rechtsabbiegerunfällen. Viele Verkehrsexperten fordern daher eine vollständige Aufhebung der Radwegebenutzungspflicht. Auf der Straße können Radfahrer besser wahrgenommen werden als auf einem Radweg hinter einer Reihe parkender Autos.

„Die billigste, sicherste und einfachste Möglichkeit, an Kreuzungen guten Sichtkontakt zwischen Autofahrern und Radlern herzustellen, sind sogenannte aufgeblasene Fahrradstreifen“, so Michael Cramer, verkehrspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen. „Dabei handelt es sich um eine fünf Meter lange Wartezone über die Breite der Fahrbahn für Radfahrer vor der Haltelinie der Autofahrer.“ Nach Umspringen der Ampel auf Grün können die Radfahrer erst dann von den Autos überholt werden, wenn sie sich wieder eingereiht haben. Zudem müssen Radfahrer beim Warten vor der roten Ampel auf einem „aufgeblasenen Fahrradstreifen“ weniger Auspuffgase einatmen, weil sie vor den Autos stehen. Aufgrund seiner Autofixiertheit sei der Berliner Verkehrssenator jedoch für die Einführung solcher Neuerungen zur Erhöhung der Sicherheit von Radfahrern leider nicht bereit.

In einer ersten Zwischenbilanz hat der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club Berlin e.V. (ADFC) festgestellt, daß die meisten Radfahrer auch auf Hauptverkehrsstraßen ohne Benutzungspflicht die Radwegbenutzung vorziehen. Nur dort, wo die Radwege besonders schlecht seien und in Nebenstraßen mit Radwegen komme es vor, daß mehr als die Hälfte der Radfahrer auf der Fahrbahn fahre. Die Situation auf zahlreichen Berliner Hauptstraßen ohne Radverkehrsanlagen zeige sogar, daß viele Radfahre lieber verbotenerweise auf dem Gehweg fahren als erlaubterweise auf der Fahrbahn, sobald Geschwindigkeit und Stärke des Autoverkehrs ein gewisses Maß übersteigen.

Ein weiterer Kernpunkt der Änderung der Straßenverkehrsordung (StVO) im letzten Herbst ist die Öffnung von Einbahnstraßen in Gegenrichtung für Fahrradfahrer. Bisher ist in Berlin die Öffnung von rund 170 der 850 Einbahnstraßen von der Straßenverkehrsbehörde angeordnet worden. „Nach der Öffnung der Einbahnstraßen ist bisher kein Anstieg der Unfälle mit Radfahrerbeteiligung zu beobachten“, sagt Karl-Heinz Winter, Referent für Angelegenheiten der StVO bei der Senatsverkehrsverwaltung. „Jedoch kann man erst nach der Fahrradsaison zum Sommerende eine erste aussagekräftige Bilanz ziehen.“ Für den Radfahrergegenverkehr werden nach Einzelfallprüfung in Berlin nur Einbahnstraßen geöffnet, in denen nicht schneller als 30 km/h gefahren werden darf und die nicht länger als 150 Meter sind, so Winter.

Grünen-Verkehrsexperte Cramer fordert, daß „in Tempo-30- Zonen generell alle Einbahnstraßen in Gegenrichtung für Radfahrer geöffnet werden, damit sich die Autofahrer daran gewöhnen“.

ADFC-Pressesprecher Benno Koch sieht die bisherige Umsetzung als einen „ersten kleinen Schritt seit zehn Jahren“ für eine radfreundlichere Politik an. „In anderen Großstädten wie München oder Hamburg liegt der Radverkehrsanteil mindestens doppelt so hoch wie in Berlin“, so Koch. „Bisher hat es vom Abgeordnetenhaus und dem Senat nur allgemein formulierte Bekenntnisse zur Radverkehrsförderung gegeben. Doch folgten diesen bisher keine konkreten Fördermaßnahmen.“ Zehn Jahre nach der Wende seien die Belastungen durch den ständig wachsenden Autoverkehr unerträglich geworden. „Radfahren ist nicht nur die umweltfreundlichste Form der Fortbewegung, sondern auf kurzen Strecken auch schneller als alle anderen Verkehrsmittel“, so Koch. „Jeder zweite in der Stadt zurückgelegte Weg ist kürzer als fünf Kilometer.“

Der ADFC hat zur effektiven Förderung des Radverkehrs ein Programm mit zwölf Punkten ausgearbeitet. Dazu zählt unter anderen die Bereitstellung von Finanzmitteln speziell zur Förderung des Fahrradverkehrs. Bisher ist in dem Etat des Verkehrssenats von etwa fünf Milliarden Mark nicht eine Mark explizit für den Fahrradverkehr vorgesehen.

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