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Chinas Premier trifft Sektenvertreter

Eine skurrile Sekte fordert mit ihrem Anspruch auf prophetische Gaben die kommunistische Regierung heraus. Schon heute will die Sekte fast doppelt soviel Anhänger haben, wie die KP Mitglieder hat  ■   Von Shi Ming

Berlin (taz) – Chinas Ministerpräsident Zhu Rongji hat am Sonntag abend Vertreter der religiösen Kultbewegung Falun Gong empfangen. Zuvor hatten zehntausend ihrer Anhänger vor den Mauern des Regierungsviertels Zhongnanhai im Zentrum Pekings demonstriert. Der Protest richtete sich gegen die Festnahme von Anhängern der Sekte in der Hafenstradt Tianjin, negative Medienberichte sowie das Verbot eines Buches des Sektengründers. Es war der größte Protest in der Hauptstadt seit der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989. Die Regierung war offenbar völlig überrascht.

Das Treffen Zhus mit den Sektenvertretern bestätigte erst gestern ein Sprecher des städtischen Parteikomitees. Nähere Einzelheiten wurden nicht bekannt. Gestern waren vor dem Regierungsviertel starke Sicherheitskräfte postiert, um neue Proteste zu verhindern.

Schweigsam hatten die meist älteren Demonstranten vor dem Sitz des KP-Zentralkomitees demonstriert – auf den Bürgersteigen stehend oder sitzend und ohne Transparente. Man wolle nichts anderes als friedlich eine offizielle Anerkennung des Glaubens an die buddhistische Schule Falun Gong erreichen, sagte ein Teilnehmer.

Die Demonstranten verließen den Platz gegen Mitternacht mit dem Versprechen von Ministerpräsident Zhu, binnen drei Tagen eine „offizielle“ Antwort auf die Forderung der Glaubensgemeinde zu geben. Die neue buddhistische Schule war 1992 von Li Hongzhi aus der Stadt Changchun (Provinz Jilin in Nordostchina) gegründet worden. Der 47 jährige Li lebt inzwischen in Houston, Texas. Seine Lehre verbindet traditionelle Atemübungen (Qigong) mit eigenen Interpretationen von Buddhismus und Taoismus sowie teilweise rassistischen Ideen von körperlicher und geistiger Reinheit.

Falun Gong betont die Fähigkeit eines jeden Menschens, nicht allein durch Glauben, sondern insbesondere durch eigene, beharrliche, friedliche Meditation die Erleuchtung zu erreichen. Der Glaube unterscheidet sich jedoch von ähnlichen Lehren durch sein Versprechen, daß die Erleuchteten die Zukunft der Menschheit voraussehen könnten. Dieses Versprechen hätte im alten China vor allem die bäuerlichen Gläubigen interessiert. Heute ist es die Verheißung schlechthin. Der prophetische Hinweis macht Falun Gong, das unverfänglich als spirituelle Gesundheitsbewegung daherkommt, vor allem für die städtischen Gläubigen in der Marktwirtschaft und urbanen Massenanonymität attraktiv. Wie andere Religionen und Sekten in China füllt auch die neue Lehre das Vakuum, das nach der Abkehr von der sozialistischen Lehre entstanden ist. In wenigen Jahren erreichte die Glaubensgemeinde nach Schätzungen der Allchinesischen Sportkommission, die für Qigong zuständig ist, rund 40 Millionen Mitglieder.

Nach eigenen Angaben zählt Falun Gong über 100 Millionen Anhänger. Das sind fast doppelt soviel wie die 58 Millionen Mitglieder der Kommunistischen Partei. Die Gefahr für die KPCh ist akut. Denn zu den Falun-Gong-Anhängern sollen sogar pensionierte KP-Kader gehören, die die Ordnungshüter bislang daran hindern konnten, den neuen Glauben als „verderblichen Aberglauben“ abzustempeln. Das haben die Behörden seit 1995 vor. Bereits damals war eine große Massenmeditation in Hangzhou (Provinz Zhejiang) aufgelöst worden.

Die Regierung hat den Plan noch nicht aufgegeben, den organisatorisch größten Nebenbuhler der KP zu verbieten. So beharrte am vergangenen Sonntag der Leiter der Allchinesischen Studiengesellschaf für Buddhismus, Wu Limin, auf der Bezeichnung „verderblicher Aberglaube“. Amtliche Medien hielten sich bisher zwar mit der eindeutigen Verdammung zurück. Jedoch berichten sie seit Jahren über die äußerst schädliche Wirkung des Glaubens. So könnten Gläubige die Kontrolle über ihre eigenen Körper verlieren und den Dämon in die Meridiane holen, wie es im Jargon der traditionell-chinesischen Medizin heißt.

Sollte sich die Bezeichnung „verderblicher Aberglaube“ für Falun Gong in der amtlichen Sprachregelung durchsetzen, könnte jede weitere, vor allem öffentliche Pflege des Glaubens strafrechtlich geahndet werden. So wurden in den 50er Jahren mehrere Glaubensgemeinschaften wie der Yiguuandao des chinesischen Daoismus verboten. Ihre Mitglieder wurden nicht selten wegen „verderblichen Aberglaubens“ zu langen Freiheitsstrafen verurteilt.

Chinas Regierung steht jetzt vor dem Dilemma, daß ein Verbot die Stimmung vor dem politisch äußerst brisanten zehnten Jahrestag der Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni weiter anheizen würde. Erkennt die Regierung jedoch den Glauben an, würde sie sich selbst die Exklusivität der prophetischen Qualität aberkennen. Auch könnten andere Glaubensschulen versuchen, dem Beispiel Falun Gongs zu folgen.

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