: Stillleben mit Kotzbrocken
Der Mythos Streif: Beim spektakulärsten und schwierigsten Abfahrtsrennen der Welt purzeln die Skiläufer, und der Alkohol fließt vom frühen Morgen an wildbachartig die Kehlen hinunter
aus Kitzbühel THOMAS BECKER
Morgens um acht ist der Mythos schon lebendig. Vor dem Café Langer treibt er sich rum. In aller Herrgottsfrüh gehen dort pro Minute Dutzende Schnäpse und Wodka-Orange über die Theke, aus den überforderten Boxen scheppert deutsch-österreichisches Liedgut von Zlatko über Drafi Deutscher bis zur Hymne: „Heeeeeyheybabyuhah“. Grölendes Volk zieht vorbei, manche tragen eine Palette Dosenbier mit sich herum, andere kippen Wein gleich aus der Flasche in den Schlund. Trotz der Minustemperaturen kommt keiner auf die Idee, hinein ins Warme zu gehen – der Mythos Streif ist eine Freiluftveranstaltung.
Die Weltcup-Abfahrt der Männer in Kitzbühel gilt als die Abfahrt schlechthin. 3.312 Meter lang, 863 Meter Höhenunterschied, in der berüchtigten Mausefalle eine maximale Neigung von 85 Prozent, was so steil ist, dass die Fahrer dort mehr fliegen als fahren. Die kapitalsten Stürze der gesamten Saison sind auf der Streif alljährlich zu begutachten; zahllose Karrieren endeten dort im Akja oder im Rettungshubschrauber. Im Zielraum der Streif reißt auch noch der Fahrer auf Platz 20 die Arme hoch: Ich hab’s getan. Und überlebt!
Spektakel Streif: Während bei den Damen-Wettbewerben in Cortina d’Ampezzo bloß eine Handvoll Fans dabei war, sollen in der 8.000-Einwohner-Stadt Kitzbühel 100.000 Zuschauer und 700 Journalisten Super-G, Abfahrt und Slalom besucht, 500 Millionen an den Fernsehern zugeschaut haben; der Intercity legte gar einen außerplanmäßigen Stopp in der Bezirkshauptstadt ein. Die Hotelzimmer sind in dieser Zeit noch mal um einiges teurer zu bekommen als zu den sonst üblichen Wucherpreisen. Angesichts der hohen Promi-Dichte kommt es schon mal vor, dass Ex-Skistar Christa Kinshofer nicht am gestrengen Ordner vorbeikommt oder dass in der Lokalzeitung „die deutsche Reporter-Legende Harry Valerien“ verwechselt wird: Es handelte sich um Dieter Kürten.
390.000 Euro Preisgeld wurde verteilt, sieben Millionen Mark für die Organisation ausgegeben; 600 Helfer spannten zig Kilometer Zäune, Netze, Aufprallschutzmatten. Reichlich Aufwand für „The Race“, wie das Ereignis neuerdings ganz unprätentiös heißt. Und doch scheint das schwerste und spektakulärste Abfahrtsrennen der Welt nur Vorspiel zu sein für das, was danach kommt: die Party, eine schwer fassbare Mischung aus Karneval, Oktoberfest und Sommerschlussverkauf.
Seltsam gebremst und vergleichsweise gesittet geht es noch während des Rennens zu. Zuerst die Bundeshymne, dann eine eher rhetorische Frage von Tirols Landeshauptmann Wendelin Weingartner: „Was gibt es Schöneres als das Hahnenkamm-Rennen?“ Hmm. Sobald ein Österreicher Richtung Ziellinie saust, schwenken die 20- oder 30.000 Landsleute im Zielraum lauthals jubelnd rotweißrote Fähnchen. Ansonsten ist es fast still. Keine Gesänge, keine Musik. Nur Michael „The Voice“ Horn, seit 38 Jahren Stadionsprecher, gibt Zwischenzeiten durch, kommentiert Stürze, und das mindestens zweisprachig: „Er windet sich zur Zeit am Boden. Number three got in trouble.“
Wie verabredet, gewinnt Hermann Maier. Für viele steht das so zeitig fest, dass sie erst gar nicht bis zum Schluss ausharren und so den kapitalen Sturz des Kanadiers Jeff Durand verpassen. Sie sind schon wieder auf dem Weg Richtung Partymeile, haben am Wettbüro die schwache Maier-Quote (2,75) eingelöst, einen Blick auf das vom Sponsor in einen Eisblock eingemauerte Automobil geworfen und sich endlich wieder Glühwein und Klopfer (Wodka-Feige) gewidmet. Ähnlich unkontrolliert wie zuvor Sturzopfer Durand sind später einige von ihnen in der Innenstadt zu besichtigen: Stillleben mit reglosen Alkoholleichen auf eiskaltem Straßenpflaster, überm Zaum hängende Kotzbrocken, enthemmte Spontan-Stripper im Vorgarten, schnapsmüde Tunnelblicke, wohin man schaut. Dazu Musik mit wenig aphrodisierenden Texten: „Saufen, saufen, saufen, saufen, saufen, fressen und ficken“. Oder: „Zeig mir die Möpse“. Auf einem Schild am Kirchturm steht: „Tauben füttern verboten“ – ein überflüssiges Verbot: Die Tiere haben längst die Flucht ergriffen.
1986 beschrieb Herbert Rosendorfer in seinem Buch „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ den Kitzbühel-Eindruck eines Mandarins: „Wir fuhren in einen Ort, der Ki-tsi-bü heißt und sehr scheußlich ist. Er besteht praktisch nur aus Hong-tel-Häusern. Eine Einwohnerschaft gibt es, nach meiner Feststellung, so gut wie gar nicht. Es gibt nur Gäste. Die Gäste kleiden sich in eigenartige, bunte Anzüge, drängeln sich durch die Straßen jenes kleinen Ortes und schreien immer sehr laut.“ Und dabei ist dem Mandarin wahrscheinlich noch nicht einmal der Streif-Mythos begegnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen