piwik no script img

„Sahra, du hast das Wort“

Bei einer Diskussionsrunde der Erwerbsloseninitiative Neukölln fliegen Parolen durch den Saal. Und Sahra Wagenknecht schimpft auf das Kapital

„Nach dem Wahltag ist Zahltag“, „Die Presse ist auch nur bezahlter Handlanger des Kapitals“, „Kampf findet auf der Straße statt“

von KIRSTEN KÜPPERS

Angesichts der aktuellen Ereignisse in den USA hätte man die Veranstaltung auch absagen können. Aber Sahra Wagenknecht ist bekannt dafür, dass sie unerschütterlich an Sachen festhält. Der Diskussionsabend im Hinterzimmer der Neuköllner Gaststätte „Selchower Eck“ fand am Donnerstag also statt. Auch das von der Erwerbsloseninitiative Neukölln, kurz „ErwiN“, festgesetzte Thema blieb unverändert: „Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten“.

Knapp hundert Erwerbslose hatten sich um die Holztische des verrauchten Kneipensaals versammelt, um mit dem geladenen Podium zu diskutieren. Der Vertreter der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di hatte abgesagt.

Für politische Stellungnahmen vor der Neuköllner Basis standen indes bereit: Marion Drögsler, die Berliner Vorsitzende des Arbeitslosenverbandes, der Vorsitzende der IG Bau, Berlin, Lothar Näthebusch, und eben Sahra Wagenknecht von der Kommunistischen Plattform der PDS.

Nachdem die ersten Biere bestellt waren und Ali von der Erwerbsloseninitiative selbst dem letzten zu spät kommenden Gast rührig einen Stuhl organisiert hatte, konnte die Veranstaltung denn auch beginnen. Um der Weltlage an diesem Abend wenigstens einmal Rechnung zu tragen, erhob sich das Publikum mit betroffenen Gesichtern zu einer Gedenkminute, während vom Radio der angrenzenden Gaststube tönte etwas unfeierlich „Red, red wine“ herüberdudelte.

Dann war Marion Drögsler an der Reihe. Die Vorsitzende des Berliner Arbeitslosenverbandes ist ein mütterlicher Typ. Sie berichtete von ihrem Alltag als Schuldnerberaterin. Manche Jugendliche in Berlin hätten bereits 20.000 Mark Schulden angehäuft – durch unermüdliches Handytelefonieren.

Doch vielen Gästen geriet diese Einleitung zu sozialarbeiterisch. Denn im Selchower Eck war das wahrhaft revolutionäre Potenzial Neuköllns zusammengekommen. Parolen wie „Nach dem Wahltag ist Zahltag“, „Die Presse ist auch nur bezahlter Handlanger des Kapitals“ oder „Der Kampf findet auf der Straße statt“ flogen angriffslustig durch den Saal. Ein junger Mann mit einem „Slime“-T-Shirt forderte zum Wahlboykott auf, ein älterer Herr im Anzug beklagte die „Resignation des Einzelnen in der Sklavengesellschaft“.

Eher hilflos versank da der Aufruf von Lothar Näthebusch, dem bärtigen Vertreter der IG Bau, sich auch als Erwerbsloser in den Gewerkschaften zu organisieren. Das Klima schien passender für die Vertreterin der Kommunistischen Plattform. „Sahra, du hast das Wort“, sagte einer. Neue Biere wurden geordert.

Sahra Wagenknecht ist agitieren gewöhnt. Leidenschaftlich schimpfte sie gegen die Macht des Kapitals. Der Sparzwang des Staates sei „Demagogie“. Zum Schluss forderte sie noch das Erwartete: die „Vergesellschaftung der Konzerne und Institutionen“. Die Gäste klatschten Beifall.

Im Saal ganz hinten begann ein Motz-Verkäufer seine Obdachlosenzeitungen zu verkaufen. Die Backsteintapete im Selchower Eck ist von jahrelangem Rauch und Alkoholdunst bräunlich nachgedunkelt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen