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gemessene tränen von ANDRÉ PARIS

Dass der Mensch sich mit fortschreitendem Alter lieber an gute als schlechte Erfahrungen erinnert, hat seine psycho-hygienische Bewandtnis und geht insgesamt in Ordnung. So ist das mit dem Gedächtnis: korrupt und opportunistisch. Gleichwohl erinnere ich mich an drei Ereignisse, die mir bis zum zehnten Lebensjahr die Tränen in die Augen trieben.

Einmal sanktionierte mich mein Vater für eine Eselei und verbot mir, „Dalli Dalli“ mit Hans Rosenthal zu sehen. Stattdessen steckte er mich ins Bett. „Dalli Dalli“ war für mich Spitze. Besonders die Worträtsel liebte ich. Ich hatte also allen Grund, dem Heulkrampf der Betrübnis einen Tobsuchtsanfall der Verbitterung folgen zu lassen. Rachelüstern drohte ich mit meiner Selbstauslöschung. Es half nichts. Der Vorfall weckte jedoch mein Interesse am Grundgesetz.

Beim zweiten Mal waren meine Eltern nur indirekt beteiligt: Borussia Mönchengladbach verlor wieder einmal kläglich. Im Halbfinale des Europapokals der Pokalsieger. Gegen den AC Mailand! Milano! Die Gegend, der Großvater und Mutter entstammten. Die eigenen Landsleute hatten mich verraten! Die Familie war mitschuldig. Ich jaulte bis spät in die Nacht und verfluchte meine Herkunft. Meine Mutter war italienisch ratlos und bekreuzigte sich vorsichtshalber. Mein Vater gab sich rumänisch elegisch und schimpfte dann auf den Kapitalismus. Die Nachbarn fanden, wir alle bräuchten einen Nervenarzt. Ich schwor dem Fernsehen vorerst ab.

In Italien tobten derzeit die „Roten Brigaden“. Großvater Giuseppe sah sich genötigt, den Stand der Dinge im Deutschlandfunk zu verfolgen. Ich zweifelte, ob er die phlegmatischen Ausführungen des Sprechers überhaupt verstand. Sein Gesicht beim Abhören der würdevollen Stimme gefiel mir jedoch: Es war gemessen. Ich probte es vor dem Spiegel. Es gelang nicht. Aber ich verliebte mich in die Gemessenheit. Ich brauchte dringend auch ein Radio. Nur hatten wir kein Geld. Meine Mutter betete. Mein Vater schimpfte auf den Kapitalismus. Und bastelte mit mir einen Mittelwellen-Empfänger.

Somit war es nicht das Fernsehen, das mich in eine weitere Entwicklungskrise stürzte, sondern der Deutschlandfunk, dem ich in den Abendstunden des 19. Oktober 1977 mit Großvater Giuseppe lauschte. Ich vernahm die Nachricht, dass Hanns-Martin Schleyer erschossen in einem Kofferraum aufgefunden wurde. Wir wussten nichts über den Verstorbenen. Wir wussten nichts über die danach verlesenen Namen und Personen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe, von denen gesagt wurde, dass sie tags zuvor im Gefängnis gestorben waren. Es gab keine Mörder. Keinen SS-Führer. Keinen Arbeitgeberpräsidenten. Nichts von dem, was mein späteres Leben in Deutschland beunruhigen würde, war in diesem Moment von Belang.

Ich betrachtete das in Gemessenheit erprobte Gesicht Großvater Giuseppes, der jetzt den Kopf schüttelte. Dann bekreuzigten wir uns. Der Sprecher des Deutschlandfunks las unbeeindruckt weiter. Wir schalteten das Radio aus. Und beklagten alle Toten.

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