■ Arbeitszeitverkürzung, ein neuer Kampf ums gute Leben: Grüne – es geht um Eure Sache!
Die Debatte um die Viertagewoche signalisiert eine erneute Verschiebung der politischen Fronten. Die Grundbegriffe des noch dominierenden Ausgrenzungsdiskurses bekommen Konkurrenz. Gleichzeitig wird die Verteilungsdebatte auf eine neue Ebene gehoben. Es geht nicht mehr nur um Lohneinkommen oder Profit. Statt dessen tritt der alltägliche Kampf um das „gute Leben“ in den Vordergrund. Jetzt geht es darum, wieviel Schinderei das neue Auto oder die Eigentumswohnung wirklich wert sind.
Erinnern wir uns: Während der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte unterschieden sich die großen Volksparteien durch ihren Umgang mit den Wachstumsgewinnen: CDU/CSU vertraten eine Verteilungsstrategie, die das gesellschaftliche Reichtumsgefälle festschrieb. Die SPD wollte, daß die kleinen Leute mehr bekommen. Seit Beginn der achtziger Jahre hat sich die Situation verändert. Die Wachstumsdynamik der Nachkriegsgesellschaften ist erschöpft. Weil keine Wachtumsgewinne mehr umzuverteilen sind, verliert auch die alte verteilungspolitische Rechts-links-Differenz an Bedeutung. Was bleibt, ist eine faktische große Koalition. Inzwischen tritt eine neue Kontroverse in den Vordergrund. Seitdem klar ist, daß auf dem bisherigen Weg Wohlstand für alle nicht zu erreichen ist, wird darum gekämpft, wo die Grenzen verlaufen, wer noch dazu gehört. Beide Volksparteien kämpfen auf der Seite der noch Dazugehörenden. Die unterschiedliche Tonlage verhindert keineswegs, daß beide bei der Inneren Sicherheit, beim Asyl- und Ausländerrecht und beim Sozialabbau an einem Strang ziehen. Aus dem stillgestellten Verteilungsstreit wurde ein Burgfrieden.
Der Vorstoß des VW-Vorstandes zeigt, wie schmal die soziale Basis dieses Burgfriedens geworden ist. Die Rausgeschmissenen drohen zur Mehrheit zu werden. VW hätte zwischen 1993 und 94 45 % seiner Belegschaft entlassen müssen. Wenn die Gruppe der Gewinner allzu klein wird, dann greift die Ratio der Ausgrenzungspolitik nicht mehr. Das weiß auch der VW-Vorstand. Er bekam Angst vor einem erneuten Rheinhausen.
Wolfsburg oder Lemwerda – das ist jetzt die Alternative. Alles kommt darauf an, daß der bei VW geschlagene Funke überspringt. Dazu ist wichtig, daß die VW-Arbeiter einen vernünftigen Lohnausgleich herausholen und eine dauerhafte tarifpolitische Absicherung der Arbeitszeitverkürzung erreichen. Belegschaft und IG Metall müssen aufpassen, daß das Ganze nicht auf unbezahlte Kurzarbeit hinausläuft. Die Belegschaft würde sonst zur machtlosen Dispositionsmasse des Automobilmarktes. Die IG Metall hat geschickt reagiert, als sie vorschlug, die 35-Stunden-Woche vorzuziehen. Jetzt, wo der Vorstoß des VW-Vorstandes nur noch schwer rückholbar ist, könnte sie weitergehen und die Festschreibung der 32-Stunden-Woche fordern.
Nichts spricht dagegen, daß die Gewerkschaften auch in allen anderen Betrieben, in denen Massenentlassungen anstehen – und das sind fast alle –, Arbeitszeitverkürzungen verlangen. Es entstünde ein wärmender Flächenbrand regionaler Kämpfe, wo vor Ort immer neu über die Bedingungen, Zwänge und Möglichkeiten des „guten Lebens“ gestritten und entschieden werden müßte.
Aber bleiben wir realistisch. Leider müssen die Gewerkschaften im Augenblick zum Jagen getragen werden. Das hat nichts mit bösem Willen und nur wenig mit borniertem Funktionärstum zu tun. Sie sind in einer Zwangslage. Arbeitslose können nicht streiken. Ihre Interessen spielen für die Kampf- und Durchsetzungskraft der Gewerkschaften nur eine Nebenrolle. Wer verhindern will, daß auch den Gewerkschaften die Logik der Ausgrenzungspolitik aufgezwungen wird, muß für öffentliche Hilfen beim Lohnausgleich eintreten. Die Zuschüsse sollten ausreichen, um gemeinsam mit dem Arbeitgeberanteil einen vollen Lohnausgleich für untere und mittlere Tarifgruppen zu sichern. Dabei ist wichtig, daß sie zeitlich befristet werden, so daß sie durch Tariflohnerhöhungen schrittweise abgelöst werden können.
Die Lohnsubventionen könnten z.B. aus einer Überstundensteuer finanziert werden. Würden von den Unternehmern 10 DM pro Überstunde erhoben, kämen 15 bis 20 Milliarden DM zusammen. Das dürfte ausreichen, um den jetzt von Massenentlassungen bedrohten Belegschaften einen 50prozentigen Lohnausgleich zu garantieren. Um darüber hinaus die jetzt schon Arbeitslosen zu beschäftigen, ist die flächendeckende Einführung der 30-Stunden-Woche notwendig. Ein vollständiger Lohnausgleich würde rund 200 Mrd. DM erfordern. Die Arbeitslosigkeit kostet die öffentlichen Hände etwa 75 Mrd. Eine auf 10 Jahre gestreckte Lastenausgleichsabgabe auf alle Vermögen von insgesamt 5 Prozent erbrächte rund 50 Milliarden im Jahr – selbst wenn kleinere Guthaben ausgenommen würden. Das würde reichen, um einen 50prozentigen Lohnausgleich zu finanzieren. Höher sollten die öffentlichen Zuschüsse nicht sein, weil aller Erfahrung nach die Hälfte der Arbeitszeitverkürzung durch Produktivitätsgewinne aufgefangen wird, so daß die Unternehmer die andere Hälfte des Lohnausgleichs tragen könnten, ohne daß ihnen zusätzliche Kosten entstünden.
Die Altparteien werden diese Perspektive nicht aufgreifen. Sie sind noch viel zu sehr im alten, rein monetären Verteilungsschema und in der Logik des Ausgrenzungsdiskurses befangen. Dadurch werden die Grünen zum einzigen Hoffnungsträger. Für sie stand die Frage nach der qualitativen Ausgestaltung und nach dem Sinn des gesellschaftlichen Reichtums schon immer im Mittelpunkt. Jetzt, wo sich die monetären Verteilungskonflikte mit qualitativ-lebensweltlichen Fragen verbinden, kommt ihnen eine Schlüsselrolle zu. Das ist ihr Terrain. Sie sollten es sich von niemandem nehmen lassen.
Deshalb ist es wenig hilfreich, wenn grüne Realpolitiker wie z.B. Fritz Kuhn die „leeren Kassen“ gegen öffentliche Hilfen beim Lohnausgleich ins Feld führen (taz vom 16.11.93). Kuhns Appell an die Solidarität zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen vergißt die Kapitalrentiers, denen ihr Geldvermögen jährlich fast 200 Milliarden DM einbringt. Auch die von Graefe zu Baringdorf vorgetragenen (taz vom 4.11.93) Bedenken, Arbeitszeitverkürzung könne den modernen Wachstumsmoloch nicht stoppen und sei deshalb bestenfalls von temporärer Bedeutung, greift zu kurz. Im Gegenteil! Wenn Produktivitätsfortschritte für Freizeit statt Geldeinkommen verwandt werden, entfällt die zusätzliche Nachfrage, die weiteres Wachstum erst möglich macht.
Bündnis 90/Die Grünen müssen die große Chance ergreifen, die sich ihnen mit der jetzt aufgebrochenen Debatte bietet. Die französischen Grünen haben gezeigt, wie man das macht. Ihr sozialökologisches Reformkonzept avancierte im letzten Wahlkampf zur einzigen Alternative. Jetzt ist die Arbeitszeitverkürzung, Kernstück dieses Projekts, in aller Munde. Willi Brüggen
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