Arbeitsmarkt: Berliner SPD erfindet Agenda 10.000
Der Berliner Senat will 10.000 tariflich bezahlte Stellen im öffentlichen Sektor für Langzeitarbeitslose schaffen. Experten warnen vor dem Wegfall regulärer Jobs.
BERLIN taz Sie begleiten Senioren zum Arzt, tragen ihnen die Einkaufstasche oder bieten sich als Halmapartner an. Und bekommen dafür statt Hartz IV vom Jobcenter 1.300 Euro Lohn im Monat. Sieben Frauen und Männer haben bei einem Berliner Verein schon mal ausprobiert, wie öffentlich finanzierte Bürgerarbeit funktionieren kann. "Sie haben alles gemacht, wozu sonst kein Geld da ist", berichtet eine Mitarbeiterin des Vereins. Künftig sollen in Berlin nicht nur sieben, sondern 10.000 Langzeitarbeitslose solche gemeinnützigen Tätigkeiten zum Tariflohn machen.
Während die SPD im Bund noch darüber streitet, ob und wie sie die Agenda 2010 graduell korrigieren sollte, setzt sie ausgerechnet die SPD in Berlin für einige Gruppen schon außer Kraft. 80 Millionen Euro gibt das hochverschuldete Land in den nächsten drei Jahren aus, damit vor allem ältere Arbeitslose, die keiner mehr einstellen will, Lohn statt Arbeitslosengeld erhalten. Den "Öffentlich geförderten Beschäftigungssektor", kurz ÖBS, hat sich die Berliner SPD von der Linkspartei in den Koalitionsvertrag diktieren lassen .
"Müntefering hat ein Einsehen gehabt", freut sich die Sprecherin der Berliner Arbeitssenatorin Heidi Knake-Werner (Linkspartei). Die 10.000 Stellen werden zu 75 Prozent aus dem Programm des Arbeitsministeriums "Perspektiven für Langzeitarbeitslose" finanziert. Um die künftigen ÖBS-ArbeitnehmerInnen auskömmlich zu bezahlen, muss Berlin aber noch 522 Euro pro Person drauflegen.
Diese millionenschwere Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zwischen Kombilohn und Bürgerarbeit ist eigentlich eine Neuauflage der Programme, mit denen die Bundesregierung nach der Wende den ehemaligen Werktätigen der DDR die Zeit bis zur Rente verkürzte. Echte neue Jobs im Osten wurden durch diese Subvention von Arbeit freilich nicht geschaffen.
Der sozialpolitische Sprecher der Grünen, Markus Kurth, warnt denn auch vor der "Illusion, mit öffentlich geförderter Beschäftigung Millionen von Arbeitsplätzen zu schaffen". Obwohl Kurth öffentlich bezahlte Arbeit grundsätzlich gutheißt, befürchtet er ausufernde Kosten. Die Krux an dem Berliner Modell sei nämlich, dass das Arbeitslosengeld II nicht in Löhne umgewandelt werden darf.
Das schwebte der Linkspartei vor. Doch statt Hartz IV abzuschaffen, muss sie nun Geld von anderen Beschäftigungsprogrammen abzwacken.
Auch in anderer Hinsicht kann sich das Berliner Modell schnell als Nullsummenspiel entpuppen. "Die große Gefahr ist, dass reguläre Arbeit im öffentlichen Bereich dadurch wegfällt", warnt Kurth. Diese Gefahr sieht auch Joachim Wolff vom Institut für Arbeitsmarktforschung der Arbeitsagentur. "Es gibt bisher keine Hinweise darauf, dass durch öffentlich geförderte Beschäftigung neue Stellen entstehen."
Um zu verhindern, dass Unternehmen und Vereine ihre Mitarbeiter künftig auf die Gehaltsliste des Landes Berlin setzen, will das Land einen Beirat einsetzen, in dem auch Vertreter aus Industrie und Handwerk sind.
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