Arbeitsmarkt und Arbeitstag: Berlin macht mächtig Arbeit

Am 1. Mai werden die Gewerkschaften mehr Arbeitsplätze und höhere Löhne fordern. In Berlin darf man darauf kaum hoffen: Die Wirtschaft wächst langsam, der Strukturwandel stockt, Fachkräfte fehlen.

In Berlin schwer zu finden: Zukunftsweisende Industrieprodukte Bild: dpa

Als Bewerberin um die Stelle "Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland" hätte Berlin kaum Chancen. In punkto Wachstum, Wohlstand und Dynamik würde die schnoddrig-schmuddlige Bewerberin nicht nur von München oder Stuttgart, sondern selbst von Dresden und Duisburgabgehängt. Das Städteranking der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft verwies Berlin 2007 auf den 50. - und letzten - Platz. Als Schwächen nannte die Studie unter anderem die schlechte Versorgung mit Arbeitsplätzen, den hohen Anteil an Arbeitslosengeld-II-Empfängern und die schleppende Entwicklung der Einkommen.

Insbesondere beim letzten Punkt sind sich die Initiative - ein Anhängsel des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall - und die Gewerkschaften ausnahmsweise einig. Der Deutsche Gewerkschaftsbund marschiert am morgigen Tag der Arbeit unter dem Motto: "Gute Arbeit muss drin sein" auf und fordert höhere Löhne und bessere Jobs.

"Berlin ist die Hauptstadt der prekären Beschäftigung", kritisiert DGB-Sprecher Dieter Pienkny. Jeder zweite neue Job entstehe in der Leiharbeit. Nach Einschätzung der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Berlin Partners, die Investoren überredet, sich in der Hauptstadt anzusiedeln, liege das Pro-Kopf-Einkommen der Berliner 20 bis 30 Prozent unter dem der Münchener.

Gut, dass die Hauptstadtstelle schon vergeben ist, und zwar unbefristet. "Ohne den Hauptstadtbonus wäre Berlin deutlich schlechter dran", meint Doris Wiethölter, Wissenschaftlerin am Institut für Arbeitsmarktforschung Berlin-Brandenburg. Der Status Hauptstadt locke vor allem Dienstleistungsbetriebe an, die die Nähe zur Politik suchen, Unternehmensberatungen etwa. Auch Gesundheit, Tourismus und Medien profitierten - jene Felder also, die der Senat als Zukunftsfelder bevorzugt fördert.

Wenn die Agentur für Arbeit heute die aktuellen Arbeitsmarktzahlen verkündet, wird der Dienstleistungssektor wie gewohnt die größten Zuwächse verzeichnen, inklusive der bereits erwähnten Leiharbeitsjobs. Schaut man nur auf die Anzahl und nicht auf die Qualität der neuen Arbeit, kann Berlin überraschenderweise seit einem Jahr punkten. Die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stieg 2007 um bundesweit einmalige 2,7 Prozentpunkte, 27.500 Menschen meldeten sich bei der Arbeitsagentur ab.

Doch kann dieser Zuwachs längst nicht die Verluste ausgleichen, die Berlin in den 90er-Jahren verkraften musste. Zehnmal soviel Arbeitsplätze gingen seit dem Fall der Mauer verloren, hauptsächlich, weil der Industrie das Rückgrat brach. Heute hat jeder sechste Erwerbsfähige keinen Job; schlechter ist die Lage nur in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.

Inzwischen beobachtet Christoph Lang, Sprecher von Berlin Partners eine Renaissance der Industrie. "Aus den alten Kombinaten haben sich kleine, junge und hochinnovative Unternehmen ausgegründet." Noch stünden sie am Anfang ihres Wachstums, doch ihre Zukunftsaussichten seien glänzend. Den Strukturwandel vom subventionierten zum modernen Industriestandort habe Berlin zur Hälfte geschafft, glaubt Lang. Das hieße: noch 15 Jahre bis zur Boomtown. Optimistisch ist auch die Industrie- und Handelskammer (IHK): "Wir glauben, dass die gute Entwicklung anhält", meint Petra König vom Bereich Wirtschaftspolitik bei der IHK. Ihren Optimismus ziehen die Wirtschaftsvertreter aus ihrer dreimal jährlichen Umfrage: Die Mehrheit der Unternehmen will auch in diesem Jahr neue Stellen schaffen oder zumindest keine abbauen.

Jene, die die Berliner Wirtschaft nicht von Berufs wegen loben, sind zurückhaltender. "Berlin ist es bisher nicht gelungen seine hervorragende Ausstattung in Wissenschaft, Forschung und Kultur in spürbare Erfolge umzuwandeln", meint Doris Wiethölter vom Institut für Arbeitsmarktforschung. Berlin habe ein Übertragungsproblem: Wissenschaftliche Erkenntnisse gelangten aus den Uni-Laboren nur mühsam in die freie Wirtschaft, so Wiethöltel. Andererseits habe Berlin auch ein Qualifizierungsdefizit: Zwar gebe es überproportional viel Hochqualifizierte, aber auch deutlich mehr Menschen, die nicht oder kaum qualifiziert sind.

Fast die Hälfte der Arbeitslosen ist länger als ein Jahr aus dem Beruf raus und gilt als schwer vermittelbar, jeder zehnte ist unter 25. Analog verlassen jedes Jahr zehn Prozent der Schüler die Schule ohne Abschluss. Gewerkschaften und Grüne fordern eine Qualifizierungsoffensive. In anderen Ländern hat sich diese Einsicht längst durchgesetzt: Arbeitsmarktpolitik ist zunächst mal Bildungspolitik.

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