Angesichts der "Ostalgie": Tiefensee auf Ost-Tournee
20 Jahre nach dem Mauerfall sehnt sich über die Hälfte der ostdeutschen Bundesbürger wieder zurück zur DDR. Bundesostminister Wolfgang Tiefensee (SPD) ist alarmiert. Ein Ortstermin.
Vor dem Gesellschaftshaus in Magdeburg steigt ein hochgewachsener Mann aus einer Luxuslimousine. Es ist Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), seines Zeichens auch zuständig für den Aufbau Ost. Er huscht noch mal schnell auf Toilette, bevor er sich den Bürgern im Saal stellt.
Die machen ihm nämlich Sorgen. Es sind Ostdeutsche. Wie aus der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa hervorgeht, erklärten gerade einmal 46 Prozent von ihnen, dass es ihnen jetzt besser gehe als zu DDR-Zeiten.
Dieses Ergebnis will Tiefensee im Jubiläumsjahr des Mauerfalls nicht so stehen lassen. Also reist er seit Freitag durch die östlichen Landeshauptstädte und versucht, mit "dem Ossi" in "Bürgerdialog" zu treten. Das Magdeburger Gesellschaftshaus als Veranstaltungsort scheint nicht ohne Bedacht gewählt. Benediktinermönche folgten hier einst der Regel: Bete und arbeite!, nun steht hier das Gebäude, in dem zu DDR-Zeiten Pioniere einquartiert waren.
Bis zum Beginn der Veranstaltung um 18 Uhr finden sich gerade einmal 45 Interessierte, die bereit sind, mit dem Ost- und Verkehrsminister in den Dialog zu treten. Tiefensee scheint seine Pappenheimer zu kennen und entschuldigt das Desinteresse mit Wind, Schnee und "dieser Tageszeit", bevor er seinen mahnenden Finger hebt und sagt: "Wir sind auf einem guten Weg, aber es geht noch viel zu langsam." Das Erinnerungsjahr 20 Jahre nach dem Mauerfall solle nicht zu sehr von den heutigen Problemen ablenken.
Um Arbeitsplätze soll es an diesem ersten Bürgerabend gehen, Arbeit, über deren soziale Flanken man einst einen Großteil seiner gesellschaftlichen Identität definierte und die heute vielen Ostdeutschen fehlt.
Drei Überraschungsgäste, mit denen der Minister angeblich nicht gerechnet hat, werden ihm nacheinander aufs Podium gesetzt. Doch keiner von ihnen vermag auch nur annähernd eine plausible Begründung dieses kollektiven Osttraumas nach 1990 zu liefern - nämlich warum es zu solchen miserablen Umfrageergebnissen unter unzufriedenen Menschen im Osten kommt.
Gerhard Feige, katholischer Bischof von Magdeburg, mahnt lediglich in pastoraler Manier, dass die Freiheit eben grauer sei als der Traum von ihr. Und dem Chef eines Autozulieferers fällt nichts anderes ein als die Marktwirtschaft im Generellen zwar zu loben. Er sei jedoch entsetzt über das Niveau der Schulabgänger.
Tiefensee weist daraufhin aber schnell auf die positiven Entwicklungen hin: Es gebe inzwischen Erfolge bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu vermelden, und die Infrastrukturvorhaben des Konjunkturpaketes II würden sich in Kürze unmittelbar bemerkbar machen. Zugleich verteidigt er die umstrittene Nordverlängerung der Autobahn A 14, plädiert für einen Mindestlohn und ein gemeinsames Lernen aller Schüler bis zur sechsten Klasse.
Und das Publikum? Fast niemand unter ihnen ist jünger als 40 Jahre, vier Fünftel von ihnen sind Männer. Ein Bürgermeister aus der Region macht sich Sorgen über die schlechte Internetversorgung auf dem Lande, ein weiterer Zuschauer über den Zustand der Schulgebäude und die geringe Wahlbeteiligung. Und ein Dritter will in der DDR mehr Rechtssicherheit verspürt haben. Versöhnlicher zeigen sich Minister und Mitdiskutanten erst wieder beim anschließenden Umtrunk zu Bördekäse und Anhaltiner Frühlingssuppe. Die meisten Kugelschreiber mit der Aufschrift "Unsere deutsche Einheit" bleiben am Ende aber ungenutzt auf den Stühlen liegen.
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