Analyse der Proteste: Der Occupy-Besetzerzauber
Occupy ist tot. Warum die Bewegung trotzdem erfolgreich war, und was sie Berlin gebracht hat. Ein Kommentar.
Occupy ist tot. Es lebe die Bewegung!" Was unter dem Namen "Occupy Berlin" vor zwei Monaten begann, lässt sich inzwischen mit diesem altbackenen Slogan trefflich beschreiben: Nach etlichen Besetzungen, Diskussionen, Streitigkeiten, Spaltungen und Wiederfindungsbemühungen ist vom mitreißenden Besetzergeist - von Occupy im wörtlichen Sinne - nicht mehr viel zu erkennen. Die Bewegung, an der nach wie vor Menschen verschiedendster Gesinnung und Herkunft arbeiten, ist dagegen sehr aktiv. Sie konsolidiert sich auf einen unaufgeregten, eher konventionellen Kern politischer Aktivität. Der allerdings könnte es in sich haben und Berlin bereichern.
"Ideen verbreiten sich, wenn sie gut sind", sagt Florian Hauschild. "Denn dann verbinden sie die verschiedensten Menschen und verändern langsam das System." Hauschild steht Anfang November mit 300 Aktivisten auf der Reichstagswiese und wohnt einem faszinierenden Schauspiel bei: In dreistündiger, konzentrierter Arbeit, verabschiedet die Asamblea genannte Vollversammlung einen offenen Brief an den Senat: Occupy Berlin, bisher im Kirchhof der St. Mariengemeinde in Mitte versteckt, fordert ein Camp auf einem zentralen Platz in der ach so toleranten, weltoffenen Stadt. Wie die meisten Aktivisten hält Hausschild ein gut ausgerüstetes Lager zu diesem Zeitpunkt für ein entscheidendes Moment der Bewegung.
Echte Aufbruchsstimmung
"Mit Occupy ins Jahr 2012" hat jemand in Rot auf einen gelben Regenschirm am Camp-Eingang geschrieben. Dahinter schläft am Sonntagmittag das Dutzend verbliebener Zeltbewohner aus. Am Vorabend habe man mit mehr als 100 Gästen Silvester gefeiert, erzählt ein junger Kapuzenträger, als einer von wenigen schon wach. "War super."
So verkatert sich das Camp auf dem ehemaligen Bundespressestrand präsentiert, in einem sind sich die Bewohner einig: Occupy soll auch 2012 Akzente setzen. "Die Weihnachtstage waren unsere Konsolidierungsphase", sagt Aktivist Johannes Ponader. "Jetzt arbeiten wir auf den 15. Januar zu, unseren weltweiten Aktionstag." Im Januar würden auch Flashmobs und kleinere Aktionen "wieder anlaufen".
Vorerst aber steht das Camp vor ganz praktischen Fragen. Die Geländeverwalterin, die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima), wollte das Areal schon zum Jahresende an ein privates Baukonsortium übergeben. Hier soll das neue Bildungsministerium entstehen. Zuletzt gab es Gerangel um eine Holzhütte. Am heutigen Montag will sich ein Bima-Vertreter mit Aktivisten treffen. "Nach den unschönen Aktionen dürften ihm einige Emotionen entgegenschwappen", vermutet Ponader. KO
Der Blogger Hausschild schreibt seit einigen Jahren unter den Pseudonymen "the babyshambler" und "le bohemien" über Geldwertschöpfung und Zinssystem, davon könne er leben, sagt er. Seit es Mitte Oktober auch in Berlin dem losging, was die Medien der Einfachheit halber "Occupy" betitelten, kämpft der studierte Politikwissenschaftler nicht mehr allein: "Ganz normale Bürger reden wieder über Probleme wie die Ursachen der Finanzkrise, die sie lange verdrängt hatten." Im Oktober herrscht Aufbruchstimmung, viele gute Ideen schwirren jungfräulich durch die Luft.
Die dringendste Frage der Medienvertreter - wann werden diese Ideen umgesetzt? - bleibt indes unbeantwortet. Die Aktivisten begreifen sich als Ansammlung von Einzelpersonen. Nur in dieser einen Frage besteht Übereinstimmung: "Es ist zu früh für konkrete Forderungen. Wir sind kein Block, wir sind Individuen in einem Lernprozess. Ihr werdet schon sehen."
Ähnlich große Freiräume nahmen sich höchstens die Piraten nach ihrem erstmaligen Einzug ins Abgeordnetenhaus kurz zuvor im September heraus: Erstmal wird alles von Grund auf hinterfragt. Gleichzeitig haben einige Occupy-Aktivisten hehre Ansprüche. "Wir wollen alle mitnehmen", sagt Saskia Koch. Für die Gründerin der Arbeitsgruppe Camp, die zu den treibenden Kräften der Bewegung im Kampf um öffentlichen Raum gehört, steht im Vordergrund, "auch solche Leute einzubeziehen, die von der Gesellschaft nach ganz unten abgedrängt wurden und jetzt Hilfe brauchen". Obdachlose, die eine Bleibe suchen. Sie sollten das Camp am einstigen Bundespressestrand mit aufbauen und hier den Weg zurück in die Gesellschaft finden.
Diese Position teilen nicht alle. "Das hier ist kein politisches Forum mehr", sagt Roman Asriel Anfang Dezember. Der 35-Jährige steht auf der Sandfläche, auf dem einige Aktivisten seit einem Monat campen und denkt wehmütig an die Anfänge der Bewegung vor knapp zwei Monaten zurück. Viele der 50 Zelte stehen an diesem windigen Nachmittag leer, einzelne Obdachlose haben sich in die großen Aufenthaltszelte, die für Technik und Arbeitsplätze vorgesehen sind, einquartiert. Sie machen seit den Anti-Castor-Protesten, für die viele Aktivisten ins Wendland gefahren sind, einen Großteil der Camper aus. Viele bringen sich konstruktiv bei Aufgaben wie Koch- und Spüldienst ein. Doch Asriel glaubt, dass die inhaltlichen Ziele der Bewegung sie wenig interessieren. Deshalb sei das Camp gekippt. Und damit eine der Grundlagen von Occupy.
Für jeden offen
Im Camp wollten die Occupy-Aktivisten ihre Vision von einer undefinierten, für jeden offenen Bewegung realisieren. Doch weil ihnen anfangs kein zentraler Platz zur Verfügung stand und der Aufenthalt am Bundespressestrand ständig gefährdet schien, ging es lange eben nur um die Platzfrage. Mit den guten Ideen, die laut Blogger Florian Hausschild die Menschen hätten verbinden können, beschäftigten sich die Aktivisten zu wenig. Für diesen Versuch grenzenloser Offenheit stand in Berlin der Begriff Occupy. Weil dennoch viele Einzelinteressen unausgesprochen im Raum hingen, ist er gescheitert. Occupy ist tot. Das neu erwachte politische Bewusstsein bei vielen Aktivisten nicht.
Für die Arbeitslosen und Selbstständigen, alleinerziehenden Väter und Studentinnen, die die Bewegung ausmachen, geht es nicht um den sofortigen Umstoß des Wirtschaftssystems. Sondern darum, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge zuerst zu verstehen und dann möglichst vielen Menschen weiterzuerzählen - damit Stück für Stück die viel zitierten "99 Prozent" entstehen. Dieser Grundgedanke für sich betrachtet ist die nachhaltigste Arbeit an einer gesellschaftlichen Veränderung, die man sich vorstellen kann.
Ingvar Bogdahn leistet seinen Beitrag, damit sie konkret wird. Er organisiert Workshops zum Thema Geldwertschöpfung in öffentlicher Hand, genannt Monetative. Sein Ziel: "Wir sollten uns da einarbeiten und dann bald Konsensforderungen dazu verabschieden", sagt er in der Asamblea am 10. Dezember. Der Student ist einer der Aktivisten, die weiterhin regelmäßig zu den Versammlungen kommen, in denen es jetzt wieder um "Weltthemen" gehen soll. Er steht momentan im Kontakt zu Doktoranden und Personen wie den Wirtschaftswissenschaftlern Bernd Senf und Joseph Hubner - die Art von Intellektuellen, die die Themen der Bewegung auf akademischer Ebene schon lange behandeln. Bogdahn, der Biologie studiert, arbeitet sich in wirtschaftswissenschaftliche Texte ein. Als sein Querschnittsthema ergibt sich daraus der Einfluss des Wirtschaftssystems auf den Klimawandel. Die Inhalte will er nun in die Bewegung tragen, mit Workshops, ganz konventionell in beheizten Räumen mit Stromanschluss und Bestuhlung.
Ein Kern von Aktivisten besinnt sich also auf recht konventionelle politische Arbeitsformen. Occupy samt Camp war eine wichtige Phase auf ihrem Weg dort hin, dabei haben sie neue Formen der Protest- und Kommunikationskultur entwickelt. Das ist es, was Berlin aus zwei Monaten Occupy-Besetzerzauber mitnimmt.
Alle auf Augenhöhe
Johannes Ponader bringt ganz andere Interessen als Bogdahn in die Bewegung mit. Der Münchener Theaterpädagoge hat sich Mitte Oktober entschlossen, seine Arbeit in einem Schultheaterprojekt aufzugeben und das nächste halbe Jahr an Occupy zu arbeiten. Von Anfang an war der 34-Jährige eine treibende Kraft der Bewegung, vor allem die Asambleen hält er hoch. "Kommunikation verschiedenster Menschen auf Augenhöhe, das ist es, worum es hier geht", sagt Ponader. Er hat in den vergangenen zehn Wochen immer wieder versucht, sie weiter in die Gesellschaft zu tragen. Teilweise mit Erfolg: Die Bewegung wird in den Transparenzausschuss der Bezirksverordnetenversammlung Mitte eingeladen; Polizisten sagen feixend: "Ihr seid doch ein Studienkreis, oder?", um eine unangemeldete Versammlung nicht auflösen zu müssen; ein Staatssekretär des Bundesfinanzministeriums sorgt dafür, dass das Camp zwischen den Jahren gesichertes Asyl auf dem Bundespressestrand bekommt. Denkt man Bogdahns wissenschaftliches Interesse und Ponaders Kreativität zusammen, zeigt sich das ganze Potenzial der neuen Bewegung.
Zum Abschluss der Asamblea am 10. Dezember weist Bogdahn die Aktivisten auf Workshops einer anderen Gruppe hin, weil keine eigenen Aktionen anstehen. "Ich fänds cool, wenn da einige von uns hingehen und später drüber diskutieren. Kommt bestimmt was bei rum", sagt er. Frei nach dem Motto: Eine Idee verbreitet sich, wenn sie gut ist - egal, ob sie von uns ist oder nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!