An den Ursachen der drohenden Pflegemisere wird vorbeidiskutiert: Singles versus Familien
betr.: „Pflege: Wer keine Kinder hat, zahlt künftig drauf“ u. a., taz vom 4. 4. 01
Liebe Annette Rogalla, [. . .] dass aus den zukünftigen Generationen bundesdeutscher „Büttel“ gleich ganze Heerscharen von Versagern heranreifen sollen, die keinen Job und Lebensunterhalt finden, ist nun wirklich albern. Denn wenn dem so sein soll, reden wir wohl über zehn bis zwanzig Millionen Arbeitslose, oder dürfen’s auch ein paar mehr sein? Davon kann ja allen Bildungsmängeln zum Trotz nun keine Rede sein.
Und dass die Kinder von Morgen nicht mehr ihre Erzeuger pflegen, ja, da mag wohl was dran sein. Doch das ändert halt auch nichts daran, dass die „Rabenkinder“ schön brav in Renten- und Pflegekassen einzahlen, und damit auch wieder den „armen“ Singles eine Stütze sind. Letztendlich wäre noch anzumerken, dass die ewige Totengräberei des trauten Familienidylls nichts daran geändert hat, dass nach wie vor genau diese Form des Zusammenlebens die bundesdeutsche Realität darstellt. [. . .]
Und ganz nebenbei, das Urteil der rotrobigen Verfassungsrichter stärkt nicht nur den traditionellen Vater-Mutter-Kind-Familien den Rücken, sondern stellt auch all die von Ihnen vergessenen Alleinerziehenden besser. Und denen geht es ganz bestimmt nicht besser als manch gefrustetem Single. [. . .]
FLORIAN BRÜCKNER, Hennef
Alle Diskussionen um die Ungerechtigkeiten für Eltern oder Kinderlose gehen an den Ursachen der drohenden Pflegemisere vorbei. Oder behauptet irgendjemand ernsthaft, ein Paar zeuge oder adoptiere Kinder wegen finanzieller Vorteile, womöglich gar um die Sozialversicherung zu stützen?
Jeder weiß, dass sich Pflege und Fürsorge nur in gewissem Rahmen bezahlen lassen. Die vielfältigsten Lebensentwürfe als Alternative dazu sind längst Realität, auch in Deutschland. Ihre Stärken zu nutzen wäre sinnvoller als die Solidarität der Gruppen gerade dadurch zu untergraben, dass man sie gegeneinander ausspielt, wie dies die Politiker und Richter gerne tun.
Das heißt: Die Notwendigkeit verantwortlicher sozialer Netze in jedem Lebensalter erfordern so bald wie möglich die umfassende Gleichstellung einvernehmlicher Mehrfachbeziehungen erwachsener Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, sexueller Identität, Nationalität und Zahl der Beteiligten. Eine solche Lebenspartnerschaft besteht aus gegenseitiger Verantwortung und muss im Interesse aller mit den Rechten und Pflichten der klassischen Ehe versehen werden, auch mit steuerlichen Erleichterungen. Folge: Der Staat spart Geld durch die gegenseitige Fürsorge bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit und fördert soziale Netze. [. . .]
THOMAS ÖSTREICHER, Hamburg
Lange vor Einführung der Pflegeversicherung hat sie mit 18 ihren Vater bis zum Tod gepflegt, mit 27 der sterbenden Großtante geholfen, mit 32 der Mutter ein Sterben zu Hause ermöglicht. Zum Kinderkriegen fehlte ihr der passende Mann (sie ist da altmodisch).
Heute ist sie 41, ihr Bräutigam (es fand sich doch noch einer) und sie können keine Kinder mehr kriegen. Dafür heiratet sie mit ihm nun auch seine 91 Jahre alte süße Oma, die zu Hause gepflegt wird. Bei den Schwiegereltern ist es wohl in 10 bis 15 Jahen so weit, dann ist da noch ihr 14 Jahre älterer Bruder und dessen Frau. Da muss sie wohl noch ein paar Mal mit ran. Ist okay.
Ihr Nachbar hat sich neulich einen fabrikneuen Mercedes gekauft. Das Geld musste vom Konto verschwinden, erklärt er ihr, sonst hätte er bezahlen müssen für das Pflegeheim, in das seine Schwiegermutter gekommen ist. Ihr Nachbar hat zwei Kinder. Er hat eine günstigere Steuerklasse als sie, höhere Freibeträge, höheren Ortszuschlag, Frau und Kinder sind kostenfrei mitversichert. Ist alles okay, Kinder sind teuer.
„Sie“ ist echt, der Nachbar auch. Die Geschichte ist wahr. Wahr ist auch, dass sie demnächst mehr Pflegeversicherung bezahlen wird als ihr Nachbar. Und das findet sie nicht okay. Vielleicht adoptiert sie doch noch ein paar Kinderlein, damit Solidarität in Zukunft auch bei ihr nach dem Fielmann-Prinzip funktioniert: . . . und keinen Pfennig dazu bezahlt! ULRIKE WEBER, Engelschoff
Nicht zufällig richten sich Werbung und Konsumindustrie längst an die lebensfrohen Singles und nicht mehr an die „Rama-Familie der 70er-Jahre“ heißt es im Artikel von Harry Kunz. Der Autor übersieht jedoch, dass die „Rama-Familie der 70er-Jahre“ ein Auslaufmodell war.
In den 70er-Jahren war nämlich die Geburtenrate auf einem Tiefststand, von dem wir heute weit entfernt sind. Im Jahr 1978 wurden in den alten Bundesländern 100.000 Kinder weniger geboren als 20 Jahre später. Das gegenwärtige Modell der multilokalen Mehrgenerationen-Familie wird dagegen von rückwärtsgewandten Sozialromantikern als „individualisierte Single-Gesellschaft“ fehlinterpretiert, weil es die empirische Sozialforschung versäumt hat, den gewandelten Familienformen Rechnung zu tragen und an einem veralteten Familienbegriff festhält.
Rogalla schneidet ein wichtiges Thema an: die zunehmende Stigmatisierung von Singles! Sie bleibt jedoch dem Scheinkonflikt „Singles versus Familien“ zu sehr argumentativ verhaftet.
Von Sozialpolitikern wird zwar viel vom „Generationenvertrag“ geredet, aber die Zeitdimension „Lebenslauf“ wird vernachlässigt. Kinderlose sind dann nämlich nicht mehr nur lebenslang Kinderlose (die kleinste Gruppe), sondern Eltern in der Vorkinderphase und Eltern ohne Kinder im Haushalt, oder Eltern, deren Kinder gestorben sind. Wenn es um die letztgenannten Gruppen geht, dann wird aus dem medial inszenierten Konflikt „Singles versus Familien“ der Kernkonflikt um die Umverteilung von Geldern zwischen verschiedenen Phasen in der Familienbildung.
BERND KITTLAUS, Eppelheim
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