■ Amtsgericht: Üblicher Sprachgebrauch
Gerhard M. hat entfernte Ähnlichkeit mit dem dicken Bruder aus dem Detlev-Buck-Film „Wir können auch anders“. Allerdings sucht man in seinem Gesichtsausdruck vergebens etwas Liebenswürdiges. Der mehrfach einschlägig vorbestrafte Kraftfahrer ist angeklagt, im Juni vergangenen Jahres im Lokal „Oren“ Polizeibeamte mit den Worten „Idiot, Scheißbulle, du kannst mich mal am Arsch lecken, du Penner“ beleidigt zu haben.
Vor dem Gericht ist dem 43jährigen erstmal nicht ganz klar, wegen welcher Beleidigung er nun eigentlich hier ist. Daß er die Beamten beschimpft hat, gesteht er jedoch unumwunden zu. Mürrisch gibt er an, daß er in der Synagoge in der Oranienburger Straße – „Judentempel“ nennt er sie – gewesen sei. Da hatte er schon einige Biere intus. Danach sei er in das benachbarte Café Oren gegangen, wo er ohne Umschweife das Tresenpersonal anpöbelte. Als ein daraufhin herbeigerufener Polizist seinen Ausweis sehen wollte, entgegnete M.: „Du kannst höchstens meinen Arsch küssen.“ Auch auf einen zweiten Beamten regnete es Kostproben von M.s Wortschatz herab, der selbst in Beleidigungsfragen als armselig einzustufen ist: „Idiot, Scheißbulle“. Die Ordnungshüter brachten den Krakeeler zur Blutprobe. Um 13.22 Uhr hatte der Angeklagte 2,46 Promille Alkohol im Blut.
Aus M.s bisheriger Aussage hat der Staatsanwalt zwar den Eindruck gewonnen, daß dieser gerne auch grundlos „alles und jeden“ attackiere, möchte aber genauer wissen, warum die Bedienung im Oren solchen Unmut hervorrief. „Ich war doch vorher im Judentempel“, mault M., „und da hatte ich angenommen, daß das Juden sind, die da am Tresen stehen.“ Im übrigen verstehe er die ganze Aufregung nicht, daß alles sei doch „üblicher Sprachgebrauch“.
Der Staatsanwalt winkt ab; die Bemerkung über die Juden verhallt ohne Reaktion im Saal. Da er bei dem Angeklagten weder Reue noch eine verminderte Schuldfähigkeit wegen des konsumierten Alkohols erkennen kann, plädiert der Staatsanwalt auf eine Geldstrafe, die M. empfindlich treffen soll: 80 Tagessätze à 100 Mark. Die Richterin und die beiden Schöffen folgen dem Antrag. Bei der Urteilsbegründung lugt ein weißes Unterhemd unter M.s Pullover hervor, der den prallen Bauch nicht ganz bedeckt.
Mit ihrer leisen Stimme will die Richterin M. ermahnen, seinen Sprachgebrauch, den sie durchaus nicht für üblich hält, in Zukunft zu mäßigen. Doch der hat nun mal andere Maßstäbe: „Wollen Se vielleicht abstreiten, daß det nich üblich ist? Hören Se denn keen Radio, seh'n Se keen Fernsehen?“ Annette Fink
wird fortgesetzt
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen