Amerikanische Aussicht: Wie ein Geblendeter sieht
■ Roy De Carava: ein schwarzer Fotograf wird Klassiker
In der preziösen 53. Straße liegt das Museum of Modern Art rechnerisch zwischen dem populären Treff der Downtown- Szene, Washington Square, und der 102. Straße, wo auf beiden Seiten des Central Parks die weiße Welt mehr oder weniger endet. Aber tatsächlich ist das MOMA ein glitzernder Elfenbeinturm. Die Tradition des Museums ist der Kanon der Moderne und andersherum. Schwarze Künstler kommen fast überhaupt nicht vor.
Parallel zur Ausstellung über Picasso als Porträtisten (gähn) hat die Fotografische Abteilung des Museums eine Retrospektive für Roy DeCarava zusammengestellt: ein Name, den ich als Reisender immer wieder buchstabieren muß, an der Ost- und an der Westküste gleichfalls. Von den rund 200 schwarzweißen Prints der Ausstellung gehören vier seit den fünfziger Jahren dem Museum: zwei als Ankauf, einer als Geschenk des Fotografen, einer als Geschenk eines Dritten.
Die Ausstellung ist von Peter Galassi, dem Leiter der Fotografie im MOMA, konzipiert worden. DeCarava muß ihm bis vor kurzem entgangen sein, denn in seinem Katalogtext zur Fotoausstellung „Pleasures and Terrors of Domestic Comfort“ (1991) kommt DeCarava nicht vor – während Galassi jetzt bemerkt, daß der 1919 in Harlem geborene Fotograf (der noch lebt) „höchst delikate Merkmale des häuslichen Lebens, schwarz oder weiß, eingefangen“ hat. Die MOMA- Ausstellung ist nun ein gigantisches Unternehmen, mit acht weiteren Stationen im Mittleren Westen, in Texas, an der Westküste und in Washington D. C.: Roy DeCarava gehört ab jetzt zum Kanon der Moderne.
Beeindruckend ist das Werk des Fotografen durch seine stilistische Einheitlichkeit und formale Dichte. DeCarava hat ein visuelles Ambiente erfunden, das er in makellosen düsteren Prints von unheimlicher räumlicher Tiefe auslegt. Es ist nicht, wie man auf den allerersten Blick denkt, eine Nachtfotografie; die meisten Bilder sind bei Sonnenschein aufgenommen. Aber DeCarava sieht mit den Augen von jemand, der gerade geblendet wird. Er schaut gegen das Licht in den Schatten und entdeckt dort ein zeitloses Kontinuum. Harlem zischt und brütet.
Unter dem Rituellen und Geheimnisvollen schimmert das soziale Leben durch. Die Studie eines textilen Faltenwurfs ist tatsächlich die Dokumentation eines Jacketts, das in der Rückennaht auseinandergeht. Die amphorenhaft schimmernden Beine einer stehenden Frau in zu kleinen Schlappen sind ein Detail des berühmten Marsches auf Washington im August 1963. Ob sichtbare Armut oder überwältigende Perfektion: an den Figuren von DeCarava, fast ausschließlich Schwarze, sieht man den Widerstand, gegen den sie leben, und die daraus resultierende Müdigkeit.
Nie würde er sich die Aufgabe stellen, eine Frau bei der Hausarbeit zu beobachten. Dennoch ist „Woman in Kitchen“ (1951) für ihn ein ergiebiges Motiv gewesen. Entscheidend sind die skulpturalen Details: ein nach oben offener Haken im Flur, der einen steilen Schatten wirft, und ein Handtuchhalter in der Küche, der an der Wand sitzt wie ein Relief. Nicht was sie gerade tut, interessiert DeCarava, sondern das Taktile ihres Alltags. Nichts ist bei DeCarava einfach nur da: alles ist gemacht worden und atmet den Schrecken des Zeitlichen. Wenn der Fotograf vor der Wahl steht, seine Szene als Anekdote zu beschreiben oder als Symbol, dann wählt er das Symbol.
Roy DeCarava wuchs in einem Harlem auf, das erst mit der andauernden Migration aus dem Süden langsam homogen schwarz wurde. Er war ein glückliches Kind der Straße, wurde gefördert und erlebte als junger Mann das bedenkliche Privileg, in der Akademie sehr geschätzt zu werden, während er auf der Straße – im Village, damals! – geschnitten wurde. Zur Armee einberufen, mußte er nach einem Zusammenbruch feststellen, daß die Segregation erst in der Psychiatrie aufgehoben war. DeCarava zeigte sich als ausgefuchster graphischer Künstler, bevor er sich 1950 für die Fotografie entschied. Zeitlebens war er engagiert, ein schwarzer Aktivist unter schwarzen Freunden, der das Aufkommen des Bebop und das Ende der Segregation begrüßte und erlebte. Seine Fotografien allerdings hat er nie instrumentalisiert: Weder lieferte er für die Politik von unten die Propaganda noch für die boomenden Illustrierten den gewünschten Schuß schwarzen Sentiments. Dafür nahm er die quälende Trennung von Jobs und „eigener Arbeit“ in Kauf. In den Siebzigern gründete er – spät – eine Familie und bekam, endlich, eine lohnende Lehrposition.
DeCaravas künstlerisches Werk ist aus der schwarzen Community heraus entstanden und richtete sich an sie. Das verbindet ihn, resümiert Galassi, mit den frühen Innovatoren des Jazz, die füreinander spielten und in engen Zirkeln die Formeln hervorbrachten, die später von der weißen Welt als Erleuchtung begriffen wurden.
DeCaravas Werk war in den fünfziger Jahren bekannt durch ein kleinformatiges Buch, das er mit Langston Hughes (als Textautor) gemacht hatte, „The Sweet Flypaper of Life“. Danach hatte der Fotograf eine lange Strecke vor sich, in der er, langsamer werdend, sein Werk komplettierte. Die Anerkennung durch das MOMA kommt allerdings zu einem Zeitpunkt, wo man mit der Präsentation des Werks dem Proporz nachhilft, aber gewiß keinen Konfliktstoff ins Museum bringt. Ulf Erdmann Ziegler
Bis 15.9. im Art Institute of Chicago; 14.11. bis 26.1.1997, L. A. County Museum of Art
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