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Archiv-Artikel

Am paradoxen Kern

Mit großer, geräuschloser Geste trug er die Kunst der Gegenwart in Ausstellungen, die nicht mehr als hundert Tage liefen. Der Grübler, Rebell und Meisterkurator Harald Szeemann starb Freitagnacht

VON ULF ERDMANN ZIEGLER

Was man in Europa seit einigen Jahren, ohne zu stottern, einen „Kurator“ nennt, kann man zurückführen auf Harald Szeemann. Er angelte sich mit achtundzwanzig Jahren, 1961, die Leitung der Kunsthalle seiner Heimatstadt Bern, überwarf sich mit seinem Kuratorium bei der Planung einer großen Beuysausstellung 1969 und gründete die „Agentur für geistige Gastarbeit“. Unter dem polemischen Titel setzte Szeemann fort, was er nicht mehr stoppen konnte: seine Vertiefung in Fragen der künstlerischen Arbeit, ihrer Herkunft, ihrer Form und ihrer Rolle in der Öffentlichkeit. Szeemann war der Welt der „Konservatoren“ abhanden gekommen. Alles, was er zu geben hatte, trug er in die Gegenwart von Ausstellungen, die mehr als hundert Tage nicht liefen. Er hat den Museen der Welt gezeigt, wohin sie sich strecken müssen.

Die Schweiz war der ideale Ausgangspunkt, um zu zeigen, was damals eigentlich nicht ging: Einen Michael Heizer aus Kalifornien einfliegen lassen, um mit einer Abrisskugel vor der Berner Kunsthalle ein Riesenloch in den Bürgersteig zu zeichnen. Einen Serra aus New York kommen lassen, der zweihundert Kilo Blei als Fußleistenfresko ablädt. Gar nicht zu reden von dem vielredenden Deutschen mit der Margarine, da in der Ecke, schau mal. Das war „When Attitudes Become Form“, März und April 1969. Szeemann hatte, mit dem Amerikanischen ringend, die Formel gefunden, in der die Nur-mehr-gedachte Kunst, die Arme Kunst und die Minimale Skulptur sich verbanden: intellektuell, atmosphärisch, ästhetisch. Der Clou der Berner Ausstellung war die Nähe zum Atelier.

Harald Szeemann, noch Student, in den Fünfzigerjahren, als Jean du Carrousel im selbst gestalteten, selbst choreografierten, selbst inszenierten Einmanntheater „Urfaust“: ein bleicher Bürgersohn, der es ernst meint mit dem Spaß. In einem Pariser Schnappschuss von Annette Messager, Paris 1973, kehrt er wieder, als rebellischer Vollbärtiger, der tanzend die Türöffnung eines Kleinwagens in Angriff nimmt. Da hatte er seine „documenta 5“ schon hinter sich, eine Ausstellung, von der er später sagte, dass die französische Presse „sofort ihre Struktur durchschaut hat“, während die Deutschen „unter anderem darüber enttäuscht waren, dass es keine Publikumsbeteiligung“ gab. Der alte Konflikt: Wie kann man die deutsche Kulturnation belehren, ohne ihre Aufmerksamkeit zu verlieren?

Alle, die später als Kuratoren etwas geworden sind, ritten gründlich über den transatlantischen Regenbogen. Szeemann hatte die Brücke längst hergestellt. Er hatte gemerkt, wie schwer die Erdkraft ist, wie wundervoll der Boden an den Objekten saugt, wie sie sich an den Wänden hinuntergleiten lassen (sit-in, teach-in, die-in): Gips, Blei, Fett, Staub, Tau, Latex.

In der Tat, als er 1988 den noch nicht polierten Hamburger Bahnhof einweihte, schienen Szeemanns Künstler Kanon geworden zu sein: André, Boltanski, Flavin, Judd, Nauman, Rückriem, Serra, Twombly, und sie schützten mit ihrer Autorität die Jüngeren, Wolfgang Laib, Thomas Virnich und Franz West. Ein Jahr später eröffnete er die nördliche Hamburger Deichtorhalle, ebenfalls mit großer, geräuschloser Geste. Da stand dann plötzlich, lichtraubend, der riesige Kohlebuckel eines Thierry de Cordier und als Gegenstück ein gipsener Sarkophag, genannt „Fort“, von einer Rachel Whiteread aus London, über deren Werk wenige Jahre später das britische Unterhaus debattieren musste.

Man rief also sogleich das Jahrzehnt der Skulptur aus; Irrtum, es wurde das Jahrzehnt der Fotografie. Szeemann hat es nicht gekümmert. Denn er hatte sich seit seinem Studium (Geschichte, Archäologie und Journalismus, heißt es) in die Quellen der Moderne versenkt, in die Beziehung von Bild und Text, von Geistesblitz und Geisteskrankheit, von Lebensreform und Kunstrevolte, von „Individuellen Mythologien“ und „Gesamtkunstwerk“. War die große Provokation guter Geschmack geworden, probierte er es mit dem schlechten: Grotesk, aber nicht aus Versehen, war die voll gestellte Halle der Biennale von Lyon 1997 mit Vitrinen mehr oder weniger obskurer Bastler, Sammler, Collagisten.

Harald Szeemann war ein Leser, Privatgelehrter, Grübler, Autor, immer hart am paradoxen Kern von Werkimmanenz und Anthropologie. Aber was er zu zeigen hatte, war nicht gedacht. Er wusste, dass Verständnis und Bedeutung eines Kunstwerks „sich in der Art und Weise der Plazierung im Raum zeigen müssen und nicht in der die Ausstellung begleitenden didaktischen Haltung“. Man soll nicht klagen, so wenige hätten diese Lektion von ihm gelernt. Sie ist nicht erlernbar.

Während fast alle gefangen waren in teleologischen Phrasen und glaubten, Künstler würden „Grenzen überschreiten“, hatte Szeemann erkannt, dass und wie sich künstlerische Werke aufeinander beziehen, nämlich geistig. Als physische Werke waren sie autonom, der „Vergleich“, die „Konfrontation“ gab nichts her. Da hat er anderen Kuratoren gern mal Nachhilfe gegeben.

Letztlich war Harald Szeemann, der die Sub- und Gegenkulturen nicht nur kannte, sondern auch verkörperte, ein Verfechter des künstlerischen Werks und seiner Autonomie. Geboren am 11. Juni 1933 in Bern, kehrte der internationaler Vielflieger immer wieder zu seiner Denk-„Fabrik“ im Tessiner Centovalli und seiner Frau, der Künstlerin Ingeborg Lüscher, zurück. Dort, in Tegna, ist er in der Nacht zu Freitag „an einem Lungenleiden“, wie die Biennale von Venedig verlauten ließ, gestorben.