: Am Nullpunkt der Hoffnung
Wer nicht Nein sagen kann, muss leiden: Karl-Heinz Otts subtil dekonstruierter Bildungsroman „Endlich Stille“
VON MICHAEL BRAUN
Nichts ist schwieriger, so warnen uns philosophische Aufklärer, als unseren Freunden und Feinden immerfort ein „Nein“ entgegenzuschleudern. Wer sich indes zur bestimmten Negation nicht durchringen kann, dem blüht schlimmes Unheil. So auch dem etwas konfliktscheuen Philosophen und Spinoza- Spezialisten, der in einem merkwürdig friedfertigen Basel seinen Denkgeschäften nachgeht und eines Tages von einem unerwünschten Gast heimgesucht wird.
Was in Karl-Heinz Otts neuem Roman „Endlich Stille“ als Posse um einen extrem redseligen Fremdling beginnt, wächst sich alsbald zur Tragödie aus, die in einer unerhörten Begebenheit im Hochgebirge ihren dramatischen Abschluss findet. Von einem auf den anderen Tag ist die professorale Ruhe des Spinoza-Experten dahin, als er auf einer Reise nach Amsterdam und Straßburg auf einen etwas verwildert wirkenden Musiker von rabulistischer Erbarmungslosigkeit trifft. Dieser Musiker treibt den Philosophen mit penetranter Distanzlosigkeit sogleich in die Enge.
Zu Beginn scheint Otts Held noch amüsiert von dem mitteilungsfreudigen Fremden, der ebenso ausdauernd über die Unterschiede zwischen Bösendorfer-, Steinway- und Bechstein-Flügeln wie über die Berggötter der Azteken oder die Mysterien des Katholizismus zu parlieren weiß. Nach kurzer Zeit aber muss der professionelle Geistesarbeiter feststellen, dass er mit diesem ehemaligen Pianisten einen „Weltanschauungsschwadroneur“ erster Güte eingefangen hat, einen Dampfplauderer mit beträchtlichen Redeschwallfähigkeiten, der sich bei der ersten Gelegenheit in die Wohnung des zum Neinsagen Unfähigen einnistet. Mit slapstickartigen Täuschungsmanövern versucht der bemitleidenswerte Philosoph den Eindringling wieder loszuwerden. Aber selbst seine verflossene Geliebte Marie zeigt wenig Neigung, ihn aus seiner brenzligen Lage zu befreien. So entgleitet ihm die Kontrolle über seine privaten und beruflichen Dinge – und er greift am Ende des Romans zum Äußersten.
Was diesen heiter-bedrohlichen Roman über die Macht der Diskurse und die Ohnmacht der verhinderten Neinsager zu einem staunenswerten Sprachkunstwerk macht, ist seine subtile musikalische Architektonik. Seinen novellenartig gebauten Stoff hat Karl-Heinz Ott in eine hoch elaborierte Gedankenmusik gewoben, indem er den Tiraden, Schwadronagen und Verzweiflungsmeditationen seiner Helden jene rhythmische Bewegung unterlegt, die er bei Franz Schuberts „Wanderer-Fantasie“ gefunden hat: „Schuberts ruckartige Tonartwechsel versetzten einen im Nu in die Schwebe, sodass man sich wie losgelöst fühle, was einen süchtig nach dieser Musik machen könne, die sich weniger auf die Entfaltung irgendwelcher Themen, sondern auf dieses überraschende Changieren konzentriere, weshalb man selten das Gefühl habe, von einem Anfang zu einer Klimax und schließlich zu einem Ende zu gelangen, sondern in Räumen zu gleiten, welche die Zeit vergessen ließen.“
Die kunstvolle Prosa Otts zielt mit ihren oft weit ausgreifenden Satzperioden und Konjunktivkonstruktionen auf solche Entgrenzungs- und Schwebeeffekte, die den Helden aus seinen lebensweltlichen Verankerungen heben und in den Abgrund der Desorientierung stoßen. Aus einem Stubenhocker und Sitzriesen, der das Abenteuer des Denkens eingestellt hat und seine Studenten nur noch mit routinierten Belehrungen unterhält, wird plötzlich ein zerquälter Nomade, der die absonderlichsten Fluchtpunkte ersinnt, um seinem ungebetenen Hausgast zu entkommen.
Am Nullpunkt der Hoffnungen angekommen, versinkt der Philosoph schließlich mitsamt Begleiter in einer subproletarischen Kleinbasler Lokalität, wo man sich ausdauernden Alkoholexzessen widmet. Die Komik, die auf jeder Seite dieses Romans hervorlugt, hat eine finstere Dimension, das Lächerliche ist stets mit Grausamkeit gepaart.
Seinen vor schon sieben Jahren erschienenen Erstling, „Ins Offene“, die erschütternde Geschichte vom Leben und Sterben seiner Mutter, hatte Ott noch als oberschwäbischen Heimatroman eines vom Katholizismus Versehrten angelegt. Sein neues episches Unternehmen, in dem reichlich philosophische Gedankenmaterie bewegt wird, scheint nun auf einen ironischen Bildungsroman hinzusteuern.
Mit „Endlich Stille“ hat Ott aber nicht nur diesen subtil dekonstruierten Bildungsroman geschrieben, sondern auch eine Liebeserklärung an seine alemannische Heimat. Vom Rheinknie aus bereisen der Held und sein rätselhafter Begleiter die Sehnsuchtsorte der Region: Von Basel und Straßburg zieht es sie zu den kulturträchtigen Stätten der Umgebung, nach Dornach, Laufenburg, Bad Säckingen oder nach Arlesheim, wo ihnen im barocken Dom eine teufelsfratzige Herkulesgestalt als Menetekel erscheint. Am Ende des Romans, wenn der Held seinen delirierenden Verfolger auf fragwürdige Weise abschüttelt, sind Erlösung und Entsetzen eins geworden. Und als Leser ist man längst rettungslos infiziert von jener paranoischen Panik, mit der Otts negationsunfähiger Philosoph durch diese aufregende Geschichte gejagt wird.
Karl-Heinz Ott: „Endlich Stille“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2005, 208 S., 17,95 Euro