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Alte in ManilaDas Heim der Verstoßenen

Die einst stabile Familienstruktur hat auch auf den Philippinen Risse bekommen. Im "Golden Acres" verbringen 242 Senioren, um die sich niemand mehr kümmert, ihren Lebensabend.

Immer mehr Armut, immer weniger Angehörige, die sich der Alten annehmen: Alltag in Manila. Bild: dpa

Es ist heiß in dem hell gefliesten Raum, obgleich alle Türen offen stehen. Ein alter Ventilator quirlt mühsam die Tropenschwüle um, die auf der philippinischen Hauptstadt Manila lastet. Sieben alte Menschen sitzen um türkisfarbene Plastiktische und falten Papierschnipsel. Mit unendlicher Geduld kleben sie die Papierchen dann zusammen. So entstehen Blumen, Körbchen und sogar Schwäne. Besucher können die Recyclingarbeiten kaufen. Ein Schwan kostet 40 Pesos, etwa 80 Eurocent. Doch es kommen nicht viele Besucher.

"Wer bei uns wohnt, hat alles verloren, was ihm im Leben wichtig war", beschreibt Mary Peyes das einzige staatliche Altenheim der 12-Millionen-Stadt. Seit fünf Jahren wacht sie als Chefin der Sozialarbeiter über die Betreuung der Senioren, die alle respektvoll Lola (Großmutter) und Lolo (Großvater) nennen. Derzeit leben 224 Senioren in Golden Acres, wie das Heim heißt. "Manche wurden auf der Straße aufgelesen, manche kommen aus dem Gefängnis. Einige wurden von Krankenhäusern zu uns transportiert, weil niemand ihre Rechnung bezahlt hat. Letztlich ist es bei allen das gleiche Problem: Ihre Familien kümmern sich nicht um sie", berichtet Peyes.

Immer mehr Alte klopfen an die Pforten, "obwohl wir Philippiner alte Menschen traditionell respektieren und ehren. Sich nicht um die Großeltern zu kümmern, ist eine Schande für die ganze Familie. Aber unsere Werte verändern sich schleichend." Scham und Verbitterung empfinden viele Alte, die in Golden Acres landen. Sie blicken misstrauisch, mitunter feindselig um sich. Längst nicht alle sind bereit, über ihr Schicksal zu reden.

Das Ehepaar, das still mit am Tisch sitzt und bastelt, lächelt scheu. "Wissen Sie", sagt die grauhaarige Lola schließlich, "ich kann ihnen noch gar nicht so viel erzählen. Wir sind ja erst seit einer Woche hier. Wir hatten schlimmen Ärger mit der Familie." Dann verstummt sie, versinkt wieder in das Falten der Papierstückchen. "Sie sind noch nicht so weit, dass sie die ganze Geschichte erzählen können. Aber wir hoffen, bald mit der Familie zu sprechen, damit sie die beiden wieder aufnimmt. Schließlich sind wir nur ein Übergangsheim", erklärt Peyes.

Golden Acres, so steht es in den Statuten, soll keine Endstation sein. Bedürftige Senioren können vorübergehend aufgenommen werden, um dann nach amtlich angeleiteter Versöhnung wieder in ihre Familien zurückkehren. In vielen Fällen funktioniere das, versichert die Sozialarbeiterin. "Natürlich beobachten wir noch eine Weile, ob die Alten auch wirklich gut behandelt werden. Sonst holen wir sie wieder zurück."

Domingo Cabanatan will von Versöhnung nichts wissen. "Ich werde nie, nie zurückgehen zu meiner Familie", sagt er fest. Er sitzt alleine an einem Tisch vor dem Bastelraum. Die Mundwinkel in seinem scharf geschnittenen Gesicht sind nach unten gezogen. Seit sieben Jahren lebt er auf dem ein Hektar großen Grundstück, das sich an der Rückseite eines großen Einkaufscenters in Manilas größtem Bezirk Quezon City versteckt. "Ich bin so glücklich, dass man sich hier um mich kümmert", lächelt der 76-Jährige. Details von dem Krach in seiner Familie erzählt er niemandem, aber Lust auf ein Foto hat er schon. Hastig knöpft Cabanatan sein blaues Hemd über dem mageren Oberkörper ein wenig zu und fährt sich durch die grauen Haarstoppeln. "Ich will doch gut aussehen auf dem Foto", sagt er kokett. Doch Wut und Verzweiflung lassen ihn manchmal gewalttätig werden. "Deswegen sitzt er alleine", verrät Mary Peyes.

Aggressionen, die sich aus Frust und Einsamkeit speisen, sind keine Ausnahme. "Wir bringen unseren Lolas und Lolos zwar Respekt und Sympathie entgegen, aber einige drehen durch, weil sie ihre Familie verstoßen hat", erzählt die Sozialarbeiterin, während sie den Weg zu den Wohnhäusern einschlägt. Die Steinhütten stammen aus dem Jahr 1969, als die damalige Präsidentengattin Imelda Marcos das Heim gründete. Die Einrichtung ist spärlich: Metallbetten, Plastikstühle, hie und da ein wackeliges Regal. Persönliche Habseligkeiten gibt es kaum. "Unsere Lolas und Lolos sind alle sehr arm", seufzt Peyes, "und wir haben ja nicht einmal Geld fürs Nötigste."

Ganze 65 Pesos spendiert der philippinische Staat für die in Golden Acres Gestrandeten pro Tag, etwas mehr als ein Euro. "Das reicht kaum fürs Essen, ohne Spenden könnten wir nicht überleben." Und ohne ein kleines Heer an freiwilligen Helfern ginge es auch nicht. Sie unterstützen die insgesamt 74 Sozialarbeiter, Pfleger und Krankenschwestern, so gut es geht. Oft ist es ein unangenehmer Job.

Aus einer großen Steinhütte kommt ein junger Mann in Gummistiefeln, der einen Schlauch hinter sich herzieht. Er hat gerade den nackten Betonboden in dem Haus abgespritzt. Sein strahlendes Lächeln kann nichts gegen den Gestank ausrichten, der unvermindert aus der Hütte drängt. Es riecht scharf nach Urin, Schweiß und Eiter. "Das ist unsere Station für die Bettlägerigen. Wollen Sie hier auch reingehen?", fragt Peyes.

Es dauert eine Weile, bis sich die Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben. Geschrumpfte Altmännerkörper schwitzen auf blauen Plastikmatratzen. Manche haben sich wie ein Embryo zusammengerollt, einer ist angeschnallt. Wer noch Kraft hat, versucht sich aufzurichten. "An American", flüstert einer, als er die fremde Blonde sieht. Dann sackt er zurück, zu mehr reicht die Kraft nicht. Hier wohnt der Tod mit im Zimmer. Es ist kein würdevoller Tod, sondern ein Dahinsiechen in der tropischen Hitze, vereinsamt und völlig verarmt.

Über Golden Acres redet in Manila niemand gern, für viele Philippiner ist diese Realität ein Tabu. Vielleicht aus Furcht, denn die einst so stabile Familienstruktur hat Risse bekommen, und vom maroden Staat ist nicht einmal eine Mindestrente zu erwarten. Und dabei hat sich der Anteil der über 60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung seit 1995 auf knapp sieben Millionen verdoppelt. Auch die Lebenserwartung stieg stark an: 1975 lebten Philippiner durchschnittlich 60,9 Jahre, heute werden Lolos im Schnitt 68 Jahre alt und Lolas 74 Jahre. Die jüngere Generation muss demnach mehr und ältere Senioren versorgen, als noch vor zwei Jahrzehnten. Eine Aufgabe, die traditionell von den jungen Frauen in den Clans übernommen wurde. Doch gerade die machen sich in immer größeren Zahlen auf, um in reichen Ländern als Kindermädchen, Haushaltshilfe oder Krankenschwester zu arbeiten.

Braulio Sevilla weiß, was es bedeutet, wenn die Tochter im Ausland ist. Verlassen sieht er aus, wie er auf seinem Bett sitzt. Seit 1991 lebt der 77-Jährige in Golden Acres. Seine Tochter sei in Las Vegas, sagt er leise. "Das Leben dort ist halt so teuer, deswegen kann sie mich nicht holen. Aber einmal hat sie mich besucht. Schauen Sie, hier ist ein Foto." Auf dem Bild lächelt eine hübsche junge Frau, ihr Gesicht an das des Vaters gedrückt. Man sieht das Foto kaum, so viele Heiligenbildchen und Madonnenfiguren hat Braulio Sevilla um sich geschart. Er finde Kraft im Gebet, sagt er, das wenigstens sei ihm geblieben.

An Lebensmut mangelt es Josefina Saguire nicht. Für die Unbekannte mit dem Schreibblock zaubert sie ein ebenso herzliches wie zahnloses Lächeln ins runzelige Gesicht. Die ehemalige Mathe- und Physikprofessorin hält gleich zwei Rekorde: Mit 92 Jahren ist sie die älteste Heimbewohnerin. Und: "Ich bin seit 1987 hier, 21 Jahre schafft bestimmt sonst keiner", kichert die Lola. "Ich weiß gar nicht mehr, wie es draußen aussieht, aber das interessiert mich auch nicht. Ich hab ja nie Familie gehabt."

Josefina Saguire näht sich noch alle Kleidung selbst. "Sie zieht nichts anderes an", schmunzelt Mary Peyes. In dem hellblauen Kleid, das die Professorin trägt, steckt in der Tat noch eine Sicherheitsnadel. Die Akademikerin gehört zu den wenigen, die 25 Jahre lang in die Sozialversicherung einzahlen konnten und eine Rente haben. Ihre 3.500 Pesos gibt die kleine Frau für Kräutermedizin und Kaffee aus. Aber das Gedächtnis sei nicht mehr so gut, seufzt die 92-Jährige. "Wissen Sie, ich habe 1948 Deutsch gelernt, aber jetzt fällt mir gerade nichts ein. Vielleicht später, ich denke mal nach."

Rüstige Patienten wie Josefina Saguire hätte Dr. Francis Capalongan gerne mehr. Doch der Alltag des einzigen Arztes in Golden Acres sieht anders aus. "Kommen Sie rein in meine Schuhbox", sagt der Geriater ironisch. In der winzigen Praxis steht klappriges Inventar und auch die medizinischen Instrumente sind altgedient. Es fehle am nötigsten, "viele Patienten haben Hautkrankheiten vom Liegen in der Hitze und im Urin. Windeln können wir uns nicht leisten." Nur Spenden ermöglichten eine medizinische Mindestversorgung, vom Staat komme einfach nichts. "Wir kommen gerade so über die Runden", sagt der Arzt, "glücklicherweise helfen uns auch viele Medizinstudenten."

Doch die Zukunft sieht düster aus, denn das Heim soll umgesiedelt werden in die Provinz. Fünfmal größer sei das Gelände und die Luft viel besser, heißt es im Sozialministerium. "Das klingt natürlich gut, aber dorthin werden keine Praktikanten und Studenten kommen, das wird sehr schlimm. Ich gehe auch nicht mit, weil meine Kinder in Manila auf eine gute Schule gehen", sagt der Arzt.

Josefina Saguire kennt diese Zukunftssorgen nicht. Sie hat lange in ihrem Gedächtnis gekramt, bis ihr etwas eingefallen ist. Mit kindlicher Freude verabschiedet sich die Greisin: "Leben Sie wohl", sagt sie auf Deutsch, "leben Sie wohl."

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