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Als der Westen lieber Olympische Spiele sah

Nino Haratischwili beschreibt, was schiefgelaufen ist zwischen Ost und West. „Europa, wach auf!“ versammelt Texte und Reden

Von Jens Uthoff

Wach auf, wir haben Krieg!“– Mit diesen Worten wird Nino Haratischwili am 8. August 2008 von ihrem sechsjährigen Neffen geweckt, ehe er sich wieder seinem Spielzeugauto widmet. Haratischwili verbringt ihren Sommerurlaub in Tbilissi, in ihrem Heimatland Georgien. Den Rest der Familie findet die aus dem Schlaf gerissene Autorin im Wohnzimmer vor, aus dem Fernseher ertönen Worte wie „Mobilmachung“, „Ausnahmezustand“, „Osse­tien“ – und „Krieg“. Russland greift Georgien an, beginnt eine Militäroffensive in Süd­ossetien und Abchasien, während in Peking festlich die Olympischen Spiele eröffnet werden. Der Westen guckt Olympia. Für Georgien interessieren sich wenige in diesen Sommertagen.

Nino Haratischwili, die seit 2003 in Deutschland lebt und seit Langem auch auf Deutsch schreibt, war damals noch keine bekannte Autorin. Heute ist sie eine berühmte Schriftstellerin, Dramatikerin und Regisseurin. Für ihr Mammutwerk „Das achte Leben (Für Brilka)“ über Georgien im 20. Jahrhundert wurde sie gefeiert. Nun erscheint ein Sammelband mit Texten und Reden, in denen sie mit präziser Sprache und brillanter Metaphorik auf den Punkt bringt, was schiefgelaufen ist zwischen Ost und West nach dem Ende der Sowjetunion. „Europa, wach auf!“, heißt der Band, benannt nach einem Essay, den sie 2024 in der FAZ veröffentlichte. Für sie selbst brachte spätestens der Morgen des 8. August 2008 das böse Erwachen.

Europa hätte längst aufwachen können, während des Zweiten Tschetschenienkriegs, im Georgienkrieg oder im März 2014 nach der Annexion der Krim. Doch Europa schlafwandelte auf den Abgrund zu. Noch bis heute, schreibt Haratischwili, redeten Europäer über oder mit Putin, als spräche er die Sprache der regelbasierten Ordnung, als sei politischer Anstand eine Kategorie für ihn. „Während du dich noch an gutbürgerlichen Tischmanieren mit Silberbesteck abarbeitest, isst dein großer, dein unersättlicher Nachbar längst mit den Händen, schmatzt dabei, das Fett und das Blut rinnt ihm das Kinn hinunter, er isst und isst und das Paradoxe dabei: Sein Hunger wird immer größer, je mehr er isst, desto mehr will er haben“, schreibt sie. In den insgesamt 15 Texten, zwischen 2013 und 2025 verfasst, gelingt ihr eine solch treffende Bildsprache sehr oft.

Die Sprache der Diktaturen und der Gewalt ist ein wiederkehrendes Thema. Von da aus ist es nicht weit zur russischen Propaganda und ihren Trollfabriken: „Um die ‚Wahrheit‘ zu steuern, muss man die Sprache beherrschen, sie bändigen. Die Beherrschung, die Zähmung der Sprache ist die Voraussetzung für das Fälschen der Geschichte“, schreibt sie in dem Text „Wer fürchtet sich vor der Kunst?“. Darin spielt sie nicht nur auf die russische Fake-News-Fließbandproduktion und die brutale Repression an, deren sich Russland bedient. Sie blickt auf die Kunst, die zum Feindbild für die Diktatur wird. Sie habe die Aufgabe, ein Spiegelmedium der Gesellschaft zu sein, daher müsse der Tyrann bestrebt sein, „sie zu beherrschen und zu kontrollieren“.

Nino Haratischwili: „Europa, wach auf! Texte und Reden“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2025, 192 Seiten, 14 Euro

Im Krieg versagt die Sprache. In ihrer Antrittsrede zum Amt der Stadtschreiberin von Bergen nimmt Haratischwili Bezug auf ihre ukrainische Kollegin Tanja Maljartschuk. Diese hatte sich in Zeiten der russischen Aggression als „gebrochene Autorin, eine ehemalige Autorin, eine Autorin, die die Sprache verloren hat,“ bezeichnet. Wozu schreiben, wozu Kunst in dunklen Zeiten, fragt sich auch Haratischwili. Sie kommt zum Ergebnis, dass eines Tages das Erzählen wieder möglich sein muss. Die Geschichten und die Literatur ermöglichten Empathie, die so dringend vonnöten sei.

Die Analogien, die Metaphorik, die Volten, die Stringenz, all das überzeugt an den Texten Nino Haratischwilis. Was sie von Anna Se­ghers gelernt hat („Abgeschlossen ist, was erzählt wird“) oder wie sie vom Spielfilm „Quo Vadis, Aida?“ und vom Massaker in Srebrenica eine Linie zieht zum Umgang mit Putin heute, ist einleuchtend. Man kann die 42-Jährige hier als große Essayistin entdecken; allein den titelgebenden Text und die abschließende Erzählung „Das letzte Fest“ (in der sie beschreibt, wie der Krieg eine Gesellschaft im Alltag verändert) sollte gelesen haben, wer das Verhältnis von Russland zum Rest der Welt verstehen will.

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