Alltagspflichten als Computerspiele: Weil wir alle Spielkinder sind
Wie man Menschen dazu bringt, Dinge zu erledigen, auf die sie keine Lust haben? Jede öde Pflicht zum spannenden Computerspiel machen.
Im Frühjahr 2009 standen die Redakteure der britische Tageszeitung The Guardian vor einem gigantischen Haufen Arbeit: Gerade hatte das Unterhaus veranlasst, sämtliche Spesenabrechnungen der Parlamentarier aus den letzten Jahren einzuscannen und im Internet zu veröffentlichen. Bereits seit Wochen rissen die Enthüllungen nicht ab, dass Abgeordnete Steuergelder veruntreut hatten. Dann tauchten plötzlich mehrere hunderttausend, teilweise hochbrisante Dokumente frei zugänglich auf. Doch wie sollte die Guardian-Redaktion sie durchsehen angesichts dieser Masse?
Beim Guardian entschied man sich für eine Armee der Freiwilligen. Um diese bei Laune zu halten, wurde kurzerhand eine Benutzeroberfläche entwickelt, mit der sich das knochentrockene Durchsuchen der Dokumente anfühlte wie ein ausgeklügeltes Computerspiel - die Tageszeitung setzt also auf den Spieltrieb ihrer unbezahlten Rechercheure im Netz. Oder, wie es Experten nennen: Der Guardian hat sein Projekt "gamifiziert".
"Gamification", das ist ein Kunstbegriff, der aus der Werbebranche stammt. Seit rund zwei Jahren wird damit die Übertragung von Computerspielmechanismen auf Prozesse beschrieben, die normalerweise nichts mit Spiel und Spaß zu tun haben - zu denen man aber trotzdem motivieren will. So machte auch der Guardian aus dem mühsamen Durchwühlen von Akten auf der Suche nach dem nächsten Steuerskandal ein herausforderndes Abenteuer: Den Nutzern wurde, wie bei einem Spiel, ein Ziel gegeben, sie wurden über einen Wettbewerb angespornt: Über Buttons, mit denen in Strategiespielen sonst Armeen befehligt werden, entschieden die Nutzer, ob ein Papier uninteressant ist oder auf der Stelle von der Redaktion gesichtet werden sollte. Außerdem wurde auf der Startseite der Webseite ein ständig aktualisierter Fortschrittsbalken platziert. In Rollenspielen zeigt dieser etwa an, wie viele Schneehöhlentrolle noch vom Spieler zu erlegen sind, bis er in den Rang des Tempelritters aufsteigt - beim Guardian dagegen erkennt die Community mithilfe des Balkens, wie viele Dokumente noch durchgesehen werden müssen - und wie viel von dem Aktenberg man bereits gemeinsam abgearbeitet hat. Von Zeit zu Zeit veröffentlichte der Guardian auch Ranglisten, in denen besonders fleißige Nutzer namentlich erwähnt wurden. Das Konzept ging auf: In den ersten Tagen halfen über 20.000 Freiwillige.
In den letzten Jahren ist häufig mit Bürgerjournalismus experimentiert worden. Doch selten mit so überzeugenden Ergebnissen wie bei dem spielerischen Guardian-Projekt. Andere Gamificationprojekte setzen neben Fortschrittsbalken oder Ranglisten andere Computerspiel-Elemente wie Erfahrungspunkte ein, um den Nutzer bei der Stange zu halten. In der Werbebranche gilt Gamification deshalb bereits als "the next big thing" nach sozialen Netzwerken. Es gibt kaum eine Marketingkonferenz, die ohne "Spielifizierung" auskommt, wie die deutsche Übersetzung lautet. Die Hoffnung der Werbeleute: Durch Gamification soll die ideale Kundenbindung an ein Produkt entstehen.
Nicht neu und doch unbeliebt
Bislang trauen sich erst wenige Unternehmen, das Marketinginstrument Gamification zu benutzen. "Die meisten großen Unternehmen sind überfordert und verunsichert. Die müssen erst noch soziale Netzwerke verstehen", sagt Stephan Balzer, der in Berlin eine Werbeagentur leitet. Pilotprojekte gebe es deshalb bislang kaum. Vorreiter ist momentan das standortbezogene soziale Netzwerk Foursquare. Seine Nutzer zeigen durch "Einchecken" an, wo sie sich gerade befinden. Wer zum Beispiel am häufigsten in einem Café eincheckt, wird dort "Bürgermeister" und erhält eine Belohnung - etwa kostenlosen Kaffee.
"Im Prinzip ist das nichts Neues", sagt Balzer. "Kundentreue wurde schon immer belohnt, zum Beispiel mit Kundenkarten. Neu daran ist die digitale Seite, und die ist extrem spannend." Balzer glaubt, dass Gamification in zehn bis fünfzehn Jahren das gesamte Leben durchdringen wird - weit über Marketinginteressen hinaus.
Tatsächlich ist der Transfer von Computerspielmechanismen in vielen Bereichen denkbar: einlösbare Erfahrungspunkte für ein gesundheitsbewusstes Leben, motivierende Ranglistensysteme in der Schule, Auszeichnungen für Bürgerbeteiligung. Das Leben als großes Computerspiel. Aber können Videospiele so tatsächlich die Gesellschaft verbessern? Können Menschen durch Spiele zu Dingen motiviert werden, die sie sonst immer ignoriert haben?
Olaf Wolters sitzt in einem Altbaubüro an der Grenze zwischen Berlin-Kreuzberg und Mitte. In einem Regal stehen alle Spielkonsolen, die derzeit auf dem Markt verfügbar sind. Die "Wii" ist sogar noch angeschaltet. Darunter alle wichtigen Videospieltitel der vergangenen Jahre. Wolters ist Geschäftsführer des Bundesverbands für interaktive Unterhaltungssoftware. Man geht zu ihm, wenn man die Möglichkeiten von Computerspielen ergründen will. Wolters sagt: "Ich glaube, Gamification besitzt ein unglaubliches gesellschaftliches Potenzial. Nur müssen Computerspiele endlich von Politik und Gesellschaft als vollwertiges Kulturgut anerkannt werden, um dieses Potenzial auch ausschöpfen zu können." Sein Verband organisiert deshalb Treffen mit Politikern, sogenannte Showcases, wo den meist älteren Herren gezeigt wird, dass Computerspiele mehr als nur Zeitverschwendung sein können. Es ist ein ziemlich deutscher Ansatz.
Uniseminar als Computerspiel
In der Universität des Bundesstaats Indiana, südöstlich von Chicago werden Computerspielmechanismen bereits im Hörsaal zur Motivation eingesetzt. Professor Lee Sheldon hat seine Gamedesign-Seminare in eine Art Onlinerollenspiel verwandelt. Seine Studenten lösen keine Aufgaben, sondern "Quests", für die sie keine Noten bekommen, sondern Erfahrungspunkte. Wer genügend gesammelt hat, steigt im Level. "Die Studenten lieben es, dabei lernen sie exakt denselben Stoff wie vorher", sagt Sheldon. "Die Aufmerksamkeit während des Unterrichts ist extrem hoch, die Noten sind besser, und die meisten Studenten kommen sogar vor Unterrichtsbeginn, um sich um ihre Projekte zu kümmern." Nach anfänglicher Skepsis der anderen Professoren gibt es mittlerweile in Indiana auch "Multiplayer"-Unterricht in den Mathe- und Geschichtsstudiengängen.
Von so viel Pioniergeist kann Jimmy Schulz nur träumen. Er sitzt seit 2009 für die FDP im Bundestag, sein Kernthema sind Computerspiele. Letzten Februar hat er eine Netzwerkparty im Bundestag veranstaltet. Auf die Frage, warum Gamification im politischen Kontext nicht auch mal in Deutschland ausprobiert wird, schweigt Schulz kurz. Dann bricht es aus ihm heraus: "Über 600 Abgeordnete im Bundestag haben keine Ahnung, worüber wir hier gerade reden. Politik kommt jetzt erst ins digitale Zeitalter und hat dann noch das Internet vor sich", sagt der FDP-Mann. "Was glauben Sie, wie frustrierend das ist? Ich kämpfe seit anderthalb Jahren dafür, dass es endlich W-LAN im Bundestag gibt, und ich weiß nicht, ob wir das in dieser Legislaturperiode noch erleben werden."
Schulz beschreibt einen Politikerbetrieb, der in weiten Teilen "digital ahnungslos" ist. Doch der 42-Jährige lässt sich davon nicht abhalten. Die Idee, im Bildungswesen Gamification einzusetzen, hat es ihm sogar richtig angetan, er will mit seinem bayerischen Landesverband ein Pilotprojekt in die Wege leiten. "Malen Sie sich das mal aus, statt dröger Biologietests könnten die Schüler interaktive Aufgaben im Museum am lebenden Objekt lösen." Fast überall könne er sich Gamification als Motivationshilfe vorstellen, sogar um ein paar Freiwillige in der FDP aufzutreiben, die Plakate kleben.
Dass Menschen in der Tat durch "spielifizierte" Projekte außerordentlich motiviert werden können, hat die Aktion des Guardian eindrucksvoll gezeigt: Nach vier Tagen waren bereits 160.000 Dokumente gesichtet, jeder zweite Besucher der Webseite hatte sich beteiligt. Dabei kam unter anderem heraus, dass in Großbritannien manch ein Politiker sogar die Vorzüge von Videospielen bereits erkannt hat: Auf der Spesenabrechnung eines Abgeordneten der Labour-Partei fand sich der Eintrag: "Nigel Griffiths 29.99 Pfund für ein Playstation-Spiel."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe