Alle Last den Patienten : Klartext reden oder schreiben
Bevor der ehemalige CSU-Rebell Horst Seehofer von der Union als Verhandlungsführer in Sachen Gesundheitsreform ruhig gestellt worden ist, hatte er öffentlich kritisiert, dass jene, die Otto und Ottilie NormalbürgerIn eine „Reform“ nach der anderen zumuten, von den Einschnitten ins soziale Netz selbst nie betroffen sein werden. Jetzt hat sich also in Berlin eine Allparteienkoalition dazu beglückwünscht, bei der Entsolidarisierung der deutschen Gesellschaft große Fortschritte erzielt zu haben. Angesichts von so viel Einmütigkeit unter unseren politischen Eliten freut sich der gemeine Kassenpatient über jedeN VertreterIn der „vierten Gewalt“, die in diesem Zusammenhang Klartext reden respektive schreiben. […]
UWE TÜNNERMANN, Lemgo
Sollen taz-Leser demonstrieren?
„Abzocke“, das ist ein Lieblingsbegriff der Bild-Zeitung und anderer Print- und Bildmedien. Sollen sich die taz-LeserInnen nun morgen zu einer mächtigen Demonstration treffen, um dieser „Abzocke“ Einhalt zu gebieten?
Als Grüner und Gewerkschafter begrüße ich noch mal nachträglich, dass mein politischer Gegner Norbert Blüm bereits 1997 auf die Auswirkungen des demografischen Faktors eindringlich hingewiesen hat. Wenn das staatliche Füllhorn leer ist und sich dies demnächst auch mit einer sinnvollen Tobinsteuer o. Ä. nur marginal ändern lässt, müssen die Versicherten mehr schultern, italienische, französische oder Angehörige anderer europäischer Nationen haben weniger Probleme mit ihren Krankenversicherungsselbstbeteiligungen. Sie haben auch trotz der täglichen Autobahn„abzock“gebühren ihr Land noch nicht verlassen. […]
HERFRIED TIETGE, Falkensee
Wer regiert Deutschland?
Alle Patienten waren guter Hoffnung, dass das gemeinsame Wissen Seehofers und Schmidts um die ökonomischen Raubrittermethoden der Pillendreher den Durchbruch für die Positivliste bringe. Nichts dergleichen geschah. Die soziale Gerechtigkeit blieb weiter auf der Strecke. Was für unheimliche Kräfte sind eigentlich im Hintergrund der Parteien tätig, die gegen jede Vernunft und um jeden Preis der Pharmaindustrie riesige Pfründen erhalten? An deren Macht scheitern selbst die Protagonisten Seehofer und Schmidt. Wer regiert Deutschland?
HANS KLOEP, Berg. Gladbach
Warum keine Positivliste?
Als Arzt sitze ich mal wieder im Nachtdienst (Bereitschaftsdienstgruppe C = 25 % des Stundenlohns brutto; keine Schichtzulage, aber Freizeitausgleich) und lese meine taz. Obwohl mein Arbeitgeber das Weihnachtsgeld kürzt und das Urlaubsgeld streicht, weiß meine Zeitung: „… und die Ärzte verdienen maximal abgesichert immer mehr.“ Dem folgen noch weitere Verunglimpfungen in den folgenden Berichten. Da über 50 % der Ärzte und Ärztinnen im öffentlichen Dienst arbeiten, halte ich diese Polemik für inakzeptabel und böswillig. Die Realität in deutschen Krankenhäusern und den meisten Praxen ist anders. Die Arbeitsbelastung steigt und die Bezahlung sinkt.
Die Kritik an dieser Gesundheitsreform ist auch ohne Schwarzweißmalerei leicht möglich: Wo bleibt die Stärkung der Selbstverantwortung der Patienten? Warum immer noch keine Positivliste? etc. […]
JÜRGEN KOLBECK, Hamburg
Eine Mogelpackung
Statt gesundheitsbewusstes, kostendämpfendes Verhalten zu belohnen, werden die Menschen einfach pauschal zur Kasse gebeten. Eine Mogelpackung, die lediglich Einsparungen im Gesundheitswesen vortäuscht, die aber weder eigenverantwortliches Verhalten betont noch die vorhandenen, strukturellen Probleme löst. Die bestehen in erster Linie aus Intransparenz und fehlendem Wettbewerb zwischen den am Gesundheitswesen beteiligten und zuweilen sehr gut verdienenden Gruppen. Reformen haben im Regelfall nur dann eine reelle Erfolgschance, wenn möglichst viele Personen mit einbezogen werden und es eine feste Zielvorgabe gibt. Beides war bei dieser Gesundheitsreform nicht der Fall. Mit dem Reformwerk verhält es sich letztlich so wie mit so vielen unnützen Medikamenten: Es gehört auf eine Positivliste für nicht verwertbare Produkte!
RASMUS PH. HELT, Hamburg
Gegen wen protestieren?
Entscheidende Veränderungen hat es nicht gegeben, die Reform gleicht eher einer gigantischen Gebührenerhöhung für die vornehmlich ärmsten Mitglieder der Versichertengemeinschaft.
Was ausländischen Gesundheitsexperten spontan zu Schwachpunkten im deutschen System einfällt – viele Krankenkassen, schlechte Qualitätssicherung durch Dokumentation –, wurde nicht einmal erwähnt. Der Vergleich mit der „Benzinwut“ ist schief. Dort protestierte man gegen einen offensichtlichen Zusammenhang Ökosteuer = höhere Benzinkosten und ließ die Zusammenhänge der Erhöhung unberücksichtigt. Diese Unterschlagung fällt bei der Gesundheitsreform schwerer. Das System ist wenig transparent, besitzt viele Instanzen mit moralischem Anspruch, undurchsichtige Interessenlagen und verschachtelte Einkommensmechanismen. Wer formuliert einen griffigen Protestslogan, wen soll ich vertrauensvoll mit meiner Empörung unterstützen, gegen wen kann ich plakativ protestieren? […]
FRIEDERIKE GRÄPER, Hamburg
Privatisierung mit Haken
Die Privatisierung solidarisch umgelegter Kosten hat einen ganz, ganz großen Haken, der in der Diskussion bestenfalls am Rande berührt wird: Versicherungen sind Kapitalbetriebe, die ihre Beiträge natürlich nur nach Abwägung des zu erwartenden Risikos festlegen. Im Mittelpunkt steht die Gewinnmaximierung; eine krasse Diskrepanz zu den Notwendigkeiten im Zusammenhang mit der Gesundheit der Menschen. Welche Versicherung wird sich in naher Zukunft noch das Risiko eines z. B. chronisch Kranken überhaupt ans Bein binden? Schon bei der „Umgestaltung“ der Berufsunfähigkeitsversicherung konnte ich das am eigenen Leib erfahren: Versicherung ja, aber der marode, wenn auch nicht in laufender Behandlung befindliche Rücken wird per Zusatzklausel einfach ausgeschlossen. Pech gehabt. Noch schlimmer sieht’s aus, wenn z. B. jemand, bei dem MS diagnostiziert wurde, dem es aber zumindest so gut geht, dass er weiter arbeiten kann, auch nur den Versuch unternimmt, sich zu versichern. Da hilft dann kein Geld der Welt, um einen Versicherer dazu zu bewegen, einen Vertrag aufzusetzen. […]
MORITZ UIBEL, Bremen
Beutelschneider statt Robin Hood
Die Gesundheitsreformer kreißen und gebären den Griff in die Tasche des krankenVersicherten. Während allen Beteiligten von Anfang an klar war, dass das Kind ein Beutelschneider und kein Robin Hood würde, weiß bis heute keiner so genau, warum man eigentlich so lange brauchte um sich zu einigen, aus welcher Tasche es letztendlich den Krankenversicherten das Geld ziehen sollte. Offen ist auch, warum man nicht die KV-Karte mit der Kreditkarte verschmolzen hat, das hätte die zukünftigen Arztbesuche dann doch stark vereinfacht.
Die Politik hofft derweil, dass dem Wahlvolk bei der Hitze das Gehirn verbrannt werde, damit das Ganze noch im Fiebertraum als Strukturreform durchgeht. […] KLAUS SAMER, Wuppertal
Strukturreformen sehen anders aus
Die Kartelle aus Ärzten, Pharmakonzernen und Apothekern, sie bestehen weiter und werden noch gestärkt. Marktwirtschaft und Wettbewerb im Gesundheitswesen, vom Tisch. Direktverträge zwischen GK und Arzt, vom Tisch. Positivliste und Qualitätskontrollen, vom Tisch. Entbürokratisierung des Gesundheitswesens, Fehlanzeige. Stattdessen Streichungen und höhere Zuzahlungen in Milliardenhöhe für die Versicherten. Strukturreformen sehen anders aus. Die Kassenärztliche Vereinigung? Sie kann weiter ver- und abrechnen wie gewohnt, ohne dass eine Krankenkasse weiß, was da eigentlich abgerechnet wird. Der Patient? Er wird auch weiterhin nicht wissen, was sein Arzt an Leistungen kassiert. Die Patientenquittung ist ebenso gestorben wie die Schaffung von Transparenz im Gesundheitswesen. […]
JÖRG-F. KÜSTER, Lingen
Alle Last den Patienten
Ich habe da zwei Vorschläge: 1. Wer nicht zum Arzt geht, bekommt am Jahresende 500 Euro Beiträge zurückerstattet. 2. Unsinnige Zentralisierungsprojekte, wie z. B. die Einrichtung einer zentralen Bearbeitungsstelle für geringfügig Beschäftigte in Stralsund, sollten gecancelt werden. […] Diese Verwaltungswasserköpfe, die eine Aufgabe übernehmen, die bereits dezentral bei den AOKs geregelt ist, kosten lediglich. Wenn es um die Schaffung von Arbeitsplätzen im Osten geht, sollte das Geld doch an Mediziner, Therapeuten, Apotheker … gehen. Schließlich ist es eine Krankenversicherung? Und es fällt auf, dass es vor allem die Patienten sind, die die Last der Misswirtschaft der vergangenen Jahre tragen! […]
ELISABETH BAUER-SCHESTAG,
Bietigheim-Bissingen
Zahnlos ins 21. Jahrhundert
Hatte die SPD in den 50er-Jahren dem Sozialismus entsagt, sich in den 60er-Jahren der Sozialen Marktwirtschaft verschrieben, in den 70er-Jahren etwas Sozial-Klimbim betrieben, so steuert sie jetzt auf ungezügelten Kapitalismus nach US-Modell zu. […] Immerhin, so erscheint es, hat die SPD im 21. Jahrhundert das im Auge (oder im Zahn!), was der Münchener Soziologe Beck mit der Brasilianisierung der Gesellschaft vorgezeichnet hat. Da werden die Gegensätze zwischen Arm und Reich noch größer als in den USA. […] Dazu, so wird uns gesagt, gibt es keine Alternativen mehr im 21. Jahrhundert. Jetzt kann man ungehindert darangehen, das herbeizuführen, was Karl Marx im 19. Jahrhundert mit Massenelend bezeichnet hat. Das sozialdemokratische 20. Jahrhundert ist ohnehin zu Ende. Und man hat auch beide Alternativsysteme zerstõrt. […] Übrig bleibt nur noch ein Gesellschaftsmodell, das ohne Gefahr jedem klar machen kann, dass es so nicht weitergeht, dass wir uns nach unten konkurrieren müssen und alle, die dagegen sind, als Blockierer dastehen. Das war und ist die Aufgabe der Massenmedien. Wohin die Reise mit der SPD geht, kann der kritische Leser nicht nur den Massenmedien entnehmen, sondern auch bald von jedem Mund ablesen, der zahnlos ins 21. Jahrhundert guckt. THOMAS KLIKAUER,
Sydney, Australien
Das eigentliche Ziel der Politik
Bei aller berechtigten Kritik an den Reformvorschlägen: Ich würde mich freuen, wenn es sich bis zur taz herumspricht, dass bei den Kassenärzten nicht mehr viel zu holen ist. […] Seit mindestens 1990 werden die Realeinkommen der niedergelassenen Ärzte heruntergefahren, limitiert, budgetiert, Patientenzahlen eingegrenzt. Bei vielen Ärzten werden zwischen 20 und 40 Prozent der Kassenpatienten rechnerisch umsonst behandelt; man versuche das mal mit Waschmaschinenmonteuren oder anderen handwerklichen Reparaturdiensten!
[…] Bei der politischen Diskussion wird vergessen, was das eigentliche Ziel der Politik ist: Der Bevölkerung soll ohne zu großes Aufsehen ein zunehmender Entzug von Gesundheitsleistungen verkauft werden. Alte Menschen sollen bald nicht mehr operiert werden, die niedergelassenen Ärzte zur Einschränkung ihrer Leistungen gezwungen werden. Medizinischer Fortschritt wird für einen größeren Teil der Bevölkerung unzugänglich werden, bei einigen chronischen Krankheiten und bestimmten Arten von Zahnersatz ist es schon so. Keine kassenärztliche Lobby will das meines Wissens so haben. […]
STEPHAN WEISS, Bonn
Voraussetzung für Reformen
Selbstverständlich sind Reformen notwendig, weil sich die Verhältnisse gewandelt haben. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten beruhen jedoch nicht auf der Steuer- und Abgabenlast, sondern darauf, dass immer weniger immer mehr zu produzieren in der Lage sind und deshalb seit Jahren die Arbeitslosigkeit ansteigt. Es wird davon ausgegangen, dass in Zukunft weltweit höchstens noch 20 % der arbeitsfähigen Bevölkerung gebraucht werden, d. h., dass wir mit einer Ein-Fünftel-Gesellschaft leben müssen. Wenn unter diesen Bedingungen dem Einzelnen mehr Eigenvorsorge abgefordert wird, dann setzt das einen Arbeitsplatz und ein gerechtes Arbeitsentgelt voraus, das dem Arbeitsnehmer und seiner Familie einen angemessenen Lebensstandard sichert und darüber hinaus Vorsorge erlaubt. […]
WALTER KLUCK, Osterwieck
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