Actress: „R. I. P.“: Party-Umzug ins Paradies
Die Party ist vorbei. Oder beginnt sie gerade erst? Actress bearbeitet auf „R.I.P.“ die Frage, wie Clubmusik klingen soll, wenn die Raver von einst erwachsen sind.
Irgendwann in den letzten Jahren haben die Produzenten von Dancemusic die Erinnerung für sich entdeckt. Plötzlich tauchten sie auf, die Reminiszenzen an längst vergangene Epochen und Stile, an die New Yorker Voguing-Szene der frühen Neunziger oder die Explosion von UK Garage um die Jahrtausendwende. Und es wurde kompliziert.
Wie soll eine Clubmusik klingen, die sich nicht mehr auf die gemeinsame Erfahrung des Moments oder ein Zukunftsversprechen verlassen kann? Wie überträgt man die Sehnsüchte, die mit diesen Clubmomenten verquickt sind, auf Musik, die diese Sehnsüchte aufbewahren soll, ohne gleich in die Klischees von Retro und Reverb zu verfallen?
Auch Actress, das Projekt des britischen Produzenten Darren Cunningham, lebt von seiner Vergangenheit als Raver. Aber anstatt die Erfahrung einer Generation widerzuspiegeln, wird er persönlich. Wie kann man als Raver erwachsen werden?
So richtig beantwortet er diese Frage auf den 15 Tracks seines neuen Actress-Albums „R. I. P.“ nicht, aber er sucht seine Inspiration zumindest abseits der großen Erzählung von Rave- und Breakbeateuphorie. Und stößt dabei auf eine noch viel größere Erzählung: John Miltons „Das verlorene Paradies“, die alte Geschichte vom Kampf der Engel gegen den Teufel und von Sündenfall und Wiederauferstehung.
Plot einer verlorenen Unschuld
Das klingt nach Konzeptalbum, nach Popmusik mit Ewigkeitsanspruch, dem verzweifelten Versuch, doch bitte, bitte endlich ernstgenommen zu werden – kurzum: grässlich. Aber diese Sorge ist unberechtigt. Cunningham hat seinen Milton zwar gründlich gelesen, benennt seine Tracks nach Nebencharakteren und konstruiert den Plot einer verlorenen Unschuld, dem Sündenfall aus dem Clubhimmel als spirituellen Bildungsweg. Trotzdem ist „R. I. P.“ keine vertonte Literatur, sondern eine leicht fahrige Meditation über Dancemusic und wie sich für immer in den Synapsen festsetzt.
Wie schon auf den beiden Vorgängeralben ist Irritation dabei das Gebot der Stunde. Aber wo diese sich noch lose zwischen den Genregrenzen von House, Techno und Dubstep bewegten, sind Actress’ neue Tracks nur noch auf ihn selbst zurückgeworfen. Zwölf Stunden am Tag arbeite er an seiner Musik hat Cunningham dem Guardian in einem seiner seltenen Interviews erzählt. Zehn Stunden, in denen er kaum isst und die er im Dunstschleier vor seinem Rechner verbringt.
In diesen Stunden entsteht seine spezielle Ästhetik. Sie ist digital, aber niemals klinisch, herausfordernd, aber immer zurückhaltend. Manchmal bedient Cunningham sich simpler Effekte, die mit einem minimalem Einsatz von Technik einen ganzen Track tragen können. Auf „Holy Water“ wird ein kleines Melodiefragment von mikroskopisch verschobenen Sinustönen umspült – ein Trick, den er sich bei den Pionieren elektro-akustischer Musik abgeschaut hat.
Digital, aber niemals klinisch
Überhaupt ist Abstraktionsvermögen das größte Kapital des 32-jährigen Musikers. „Raven“ kreist um ein verhalltes UK-Funky-Motiv, spielt mit der Stellung von Drums und Bassline im Mix und wird so zu einer Meta-Erzählung über die Funktion des Raums in der Bassmusik.
„R. I. P.“ ist ein Album, das man sich erarbeiten muss. Wo britische Bassmusik gerne mit ihrer Konsensfähigkeit kokettiert, bleiben Cunninghams Anspielungen skizzenhaft, fast schon introspektiv. Erst in den Schlussminuten wird das Album clubkompatibel. Cunningham programmiert eines dieser unwiderstehlichen Bassmonster nach Detroiter Bauart, darüber läuft ein gelooptes, leicht zerhäckseltes Vocalsample, beides speist er in einen mit digitalen Artefakten versetzten Reverb. Es ist der einzige Moment ungebrochener Euphorie. Gerade als man das Gefühl bekommt, der Loop könnte ewig weiterlaufen, löst er sich auf.
Kein Nachhall, keine Melancholie – stattdessen Putzlicht und Ratlosigkeit. Die Party ist vorbei. Oder beginnt sie gerade erst?
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