Acht Oscars für "Slumdog Millionaire": Der Stolz der Inder
Die Ehrung für "Slumdog Millionaire" könnte Indiens Filmindustrie Anstoß geben, sich neuen Themen und Ästhetiken zu öffnen - wie umgekehrt der internationale Markt.
BOMBAY taz Der Zeitpunkt hätte kaum besser sein können: Am Montag wird in Indien Maha Shiva Ratri gefeiert, das ist ein hoher Feiertag, den man am Abend vorher ausgelassen feiert und gerne mit dem populären Opiummilchmixgetränk "Bang" begießt. Tags darauf hat man dann Zeit, um beispielsweise ins Kino zu gehen. Wenige Stunden nach den Feierlichkeiten in Los Angeles begannen hier in Bombay die ersten Mittagsvorstellungen, mit beachtlichen Schlangen vor den 39 Kinos, in denen "Slumdog Millionaire" läuft. Und die Begeisterung derer, die zwei Stunden später aus der Vorstellung kamen, war groß: "Das ist bei weitem Danny Boyles bester Film", sagt Rahul Dasgupta, Student und "filmbuff". Andere pflichteten bei, der Film sei ganz ausgezeichnet gemacht, die Musik klasse, und es würde heute auch überhaupt keine Rolle spielen, ob Danny Boyle nun Inder sei oder nicht, die Freude über den Oscar-Erfolg ist einfach riesig. "Vor allem, weil es ein Happy End gibt und die Liebe siegt." Rahul hat den Film schon zum zweiten Mal gesehen - die Hindi-Version gefällt ihm viel besser. Wie viele seiner Freunde hatte Rahul Probleme mit der "falschen Sprache" der Slumkinder in der englischen Fassung.
Die Nachmittagsausgaben der Zeitungen stimmen in den Siegestaumel ein. Der Film selbst läuft bereits seit fünf Wochen in den indischen Kinos, Zeit genug also, sich schon vor dem Oscar-Rummel ausführlich Gedanken über "Slumdog" zu machen. Viele anerkennende Worte über den "Look" des Films und die Adaption der Romanvorlage waren letzte Woche auf der Film-und TV-Messe "Frames" in Bombay zu hören. "Es ist eine Meisterleistung, wie die episodische Struktur den neuen Rahmen einer Liebesgeschichte bekommen hat", sagt Drehbuchautorin Urmi Juvekar. "Andere indische Autoren haben sich auch schon an dem Stoff versucht. Trotzdem hält sich meine Begeisterung in Grenzen, denn der Film ist ein in der Realität angesiedeltes Märchen, bei dem ich Probleme hatte, emotional mitzugehen. Was mir zum Beispiel gar nicht gefiel, war der Aufstieg des Mädchens aus dem Slum zur Geliebten des Don - das war weder als reale Geschichte glaubhaft noch als Bollywood-Stoff emotional überzeugend konstruiert."
Der Versuch, Elemente aus Bollywood mit westlicher Cinematografie zu verbinden, ist derzeit das Anliegen vieler Produzenten in Indien. Bobby Bedi zum Beispiel, Produzent unter anderem von "Phoolan Devi", ist ein ausgemachter Fan von Danny Boyles Film. Er versprach auf der "Frames" den auch aus Deutschland angereisten internationalen Produzenten, seine beiden neuen Filmvorhaben für 2010 hätten ein mit "Slumdog" vergleichbares Potenzial und würden sich deswegen hervorragend als internationale Koproduktionen eignen. Aber die internationalen Produzenten bissen nicht an, ein bisschen aus Angst, ein bisschen aus Verunsicherung "über die Perspektive der Zusammenarbeit mit Leuten, die wir ja gar nicht kennen, die ganz anders arbeiten als wir". Und genau hier beginnt sich die von den Oscars ausgelöste Freude über eine "Hochzeit" von Hollywood und Bollywood zu trüben. Zwar interessieren sich derzeit zunehmend mehr internationale Filmprofessionelle aus der westlichen Welt für den indischen Markt, nicht zuletzt weil er gigantisch groß ist. Aber beide Seiten tun sich wahnsinnig schwer damit, aufeinander zu zu gehen. Da existieren zum einen große, nahezu unglaubliche Unkenntnisse über die Arbeitsweise in der Filmherstellung und -vermarktung, hier wie dort. Und zum anderen gibt es wenige Leute, die als Pioniere Bereitschaft zeigen, sich auf die Gepflogenheiten der jeweils anderen Seite einzulassen. Alte Ressentiments stehen im Weg, die Herablassung, mit der der Westen lange auf Bollywood herabgesehen hat - und der Stolz der Inder, sehr eigenständig die größte Filmindustrie der Welt zu managen. Hinzu kommt die mangelnde Einsicht, dass sich das althergebrachte "Formula-Cinema" überlebt hat.
Deswegen wird der Oscar-Regen für "Slumdog" vielleicht doch segensreiche Folgen haben: Jetzt werden beide Seiten den Film, seine Erzählweise und seine internationale Vermarktung mit äußerster Aufmerksamkeit beobachten und analysieren. Und dann wird man im Westen vielleicht entdecken, dass Bollywood und die indische Filmindustrie viel mehr zu bieten haben als "Song & Dance"-Szenen. Und die indischen Produzenten lassen sich vielleicht auf Wagnisse mit anderen Filmsprachen ein, die Inspirationsquellen für einen neuen Umgang mit der indischen Realität sein könnten.
Das ist es, was das indische Publikum schmerzhaft vermisst: Bollywood hat sich in den letzten Jahren allzu sehr um die zahlungskräftigen, aber oft extrem konservativen Auslandsinder in Amerika und in Großbritannien als Zielpublikum bemüht, während die veränderten Lebenswelten der indischen Zuschauer im Mainstreamkino kaum Beachtung fanden - die viele Zuschauer im Bollywood-Kino der letzten Jahre schmerzlich vermisst haben.
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