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■ Abzug der russischen Truppen aus Litauen vereinbartHappy-End unter Demokraten

Wie es scheint, ist von Ohr zu Ohr gelungen, was am Verhandlungstisch niemand mehr schaffen konnte: am Montag morgen haben die Präsidenten Litauens und Rußlands, Algirdas Brasauskas und Boris Jelzin, sich am Telefon auf Bedingungen geeinigt, die den Abzug der litauischen Truppen bis Ende August möglich machen. Vor zehn Tagen hatten überzogene Forderungen nach finanzieller Kompensation im Sinne der litauischen Opposition beinahe zu einem Abbruch der Verhandlungen geführt. Auf beiden Seiten wurden Stimmen laut, denen mehr an der nationalen Glorie als am Wohlergehen aller Beteiligten lag. Am Montag konnte Brasauskas erleichtert schließen: „Wir können jetzt ruhiger leben, geduldiger sein und uns vom Mißtrauen gegeneinander befreien.“

Das kleine Wunder beruht auf persönlichen Beziehungen zwischen Leuten aus beiden Staaten, die fünf Jahre lang hier und dort um ihre Befreiung von ein und denselben Mächten kämpften. Ich sehe die Geschichte dieses Kampfes wie einen Film, in dessen Verlauf sich immer wieder Menschen erheben, fallen, aufstehen und weitergehen. Da war der brütendheiße Julitag 1989, an dem sich im Moskauer Kinozentrum die „Überregionale Deputiertengruppe“ konstituierte, die erste Opposition im Obersten Sowjet der UdSSR. Zu ihren fünf Kovorsitzenden gehörte außer Boris Jelzin und Andrej Sacharow selbstverständlich auch der Este Palm. Dann kam der Moment, als Estland, Lettland und Litauen im Obersten Sowjet eine Wirtschaftsautonomie erkämpft hatten. Da erhoben sich die Deputierten der „Überregionalen“ wie ein Mann und applaudierten den baltischen Kollegen minutenlang im Stehen. Jelzin und Brasauskas strahlten sich über die Köpfe der Delegierten hinweg an. In dem schlimmen Winter 1991 litt das demokratische Rußland vor allem unter den Hetzsendungen der gleichgeschalteten Medien gegen Estland, Lettland, vor allem aber Litauen, das als erster der drei Staaten seine Unabhängigkeit erklärt hatte. Vorkriegsatmosphäre machte sich breit. Als die Litauer sich in den blutigen Januarnächten 1991 gegen die russischen Panzer erhoben und die ersten fielen, schlugen sie damit auch eine Bresche für die demokratische Bewegung in Rußland. Da prägt sich das Bild der Litauerin ein, die noch den Kopf zu heben versuchte, als ihre Beine und ihr Becken schon nicht mehr lebten.

Die neue litauische Regierung hat sich von diesen Eindrücken nicht überwältigen lassen. Litauen hat den auf seinem Territorium lebenden Russen die Grundrechte nicht verweigert. Für den 31. August wurden Massenfeierlichkeiten vorbereitet, um die russischen Soldaten in Ehren zu verabschieden. Noch sind dabei strikte Sicherheitsmaßnahmen nötig. Präsident Brasauskas hat die Hoffnung ausgedrückt, daß das Beispiel dieses Abzuges sich positiv auf die Beziehungen zwischen Rußland, Estland und Lettland auswirken möge. Vielleicht wird es ein litauisches Modell geben. Auch kleine Staaten können sich hoch erheben.

Barbara Kerneck, Moskau

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