■ Abschied der Demokraten Polens von der Demokratie: „... so brauch' ich Gewalt“
Als vor fünf Jahren überall in Osteuropa die kommunistischen Regime zum Abtreten gezwungen wurden und Dissidenten, antikommunistische Demokraten und liberale Oppositionelle ans Ruder kamen, erschien das geradezu als ein Sieg des westlichen Demokratie- und Wirtschaftsmodells. In den Zeiten ihrer Unterdrückung und Verfolgung waren die Oppositionellen von Kiew, Warschau bis Prag und Budapest vom Westen zumindest moralisch unterstützt worden. Sie hatten ihr Wertesystem an dem westlicher Demokratien ausgerichtet. Doch es kam anders, als alle geglaubt hatten.
Heute, fünf Jahre danach, sind außer in Tschechien überall die ehemaligen Kommunisten, zum Teil geläutert als Sozialisten und Sozialdemokraten – wie in Polen, Litauen und Ungarn, teils als ewiggestrige Betonköpfe – wie in Weißrußland und der Ukraine, an die Macht zurückgekehrt, legitimiert durch demokratische Wahlen. Jene, welche die Demokratie erkämpften, die Demokraten, hingegen drücken die Oppositionsbänke oder sind sogar ganz aus dem Parlament verschwunden.
Das zeigt, wie schwierig es ist, mit demokratischen Mitteln in Osteuropa marktwirtschaftliche Reformen durchzuführen: Jede Reform zwingt zunächst einmal zum Gürtel-enger-Schnallen, führt zu mehr Ungleichheit und sozialen Härten. Privatisierung gibt es nicht ohne Korruption: daß Planwirtschaft noch viel korrupter war, gerät dabei schnell in Vergessenheit. In Polen behalfen sich die politischen Eliten der einstigen antikommunistischen Opposition vier Jahre lang damit, im Wahlkampf Reformen zu bekämpfen, um sie nach gewonnener Wahl weiterzuführen. Bis die Wähler mit der „Bauernpartei“ und den Exkommunisten Parteien wählten, die tatsächlich begannen, den Rückwärtsgang einzulegen.
In Weißrußland, der Ukraine und der Slowakei kämpften die ehemaligen Dissidenten für Marktwirtschaft, Demokratie und Pluralismus und verloren die Wahlen mit Pauken und Trompeten. Da ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich die prowestlichen Parteien und Gruppierungen in Osteuropa nicht nur taktisch, sondern auch grundsätzlich umbesinnen: Wenn sich marktwirtschaftliche Reformen nicht demokratisch durchsetzen lassen, kann man entweder auf sie verzichten oder sie mit undemokratischen Mitteln durchzusetzen versuchen. Und genau solche Überlegungen werden besonders in Polen wieder angestellt. Unter Polens Liberalen, die seit kurzem in der linksliberalen „Freiheitsunion“ aufgegangen sind, haben solche Denkschulen bereits Tradition. Ende der achtziger Jahre herrschte zwischen ihnen und moderaten, pragmatischen KP-Intellektuellen sogar zeitweise Einigkeit darüber, daß sich in Polen bei der enormen Stärke der Gewerkschaften eine freie Marktwirtschaft nur per Polizeistaat einführen lasse.
Bestärkt wurden solche Sympathien für chilenische, spanische und südkoreanische Entwicklungsmodelle noch durch die Tatsache, daß Pinochet und Franco um so beliebter wurden, je mehr die kommunistische Propaganda sie zum Popanz aufbaute. Nach 1989 verschwanden solche Überlegungen in den Schubladen, schließlich waren die Dissidenten von einst an der Macht, hatte die Gewerkschaft „Solidarnosc“ sie schließlich durch Streiks dahin gebracht. Nur der radikalste Teil der wirtschaftsliberalen Rechten in Polen wirft General Jaruzelski noch heute nicht etwa den Kriegszustand, sondern die Tatsache vor, daß er diesen nicht zur Einführung einer manchesterliberalen Wirtschaftsordnung nutzte. Paradox, aber wahr: Jaruzelski selbst wehrte sich jahrelang gegen den überzogenen Vorwurf, ein polnischer Pinochet zu sein, aber Polens radikale Liberale werfen ihm heute vor, daß er keiner war.
Heute drücken radikale und gemäßigte Liberale wieder die harten Oppositionsbänke und erinnern sich daran, daß der undemokratische Weg zur Marktwirtschaft auch einen politischen Vorteil hätte: Man könnte sich damit auch gleich der KP-Nachfolger entledigen, die die Demokratie so trefflich zu ihrem Vorteil ausgenutzt haben. Polens Liberale, deren Liberalität sich zu einem großen Teil ohnehin nur auf die Wirtschaftspolitik erstreckt, haben dabei einen Bundesgenossen entdeckt, der in letzter Zeit ähnlich zu denken und handeln beginnt: Lech Walesa. Ihm droht Ende dieses Jahres der Machtverlust, und die bodenlosen Zyniker der Macht, die ihm als letzte in seinem leer gewordenen Palast noch die Stange halten, gehen bereits daran, verschiedene Szenarien von „Aktivitäten am Rande der Legalität“ auszuprobieren, mit deren Hilfe sich Walesas abgelaufene Zeit verlängern ließe: Auflösen des Parlaments, ohne Neuwahlen auszuschreiben, wäre ein mögliches. Der in Polen sehr angesehene polnisch-amerikanische Politiker und Publizist Jan Nowak-Jezioranski fühlte sich dieser Tage bereits verpflichtet, Walesa in einem großen Kommentar in der Gazeta Wyborcza vor solchen Manövern zu warnen.
Doch Walesa ist mit seinen Szenarien in Osteuropa gar nicht so allein. Auch in Kiew, Minsk und Vilnius werden die früheren antikommunistischen Bewegungen zunehmend populistischer, nationalistischer und wenden sich damit ab vom westlichen Modell, dessen Anwendung ihnen so viel Verdruß bereitet hat. So entstehen inzwischen selbst im national sehr indifferenten Weißrußland nationalistische Splittergruppen, wie es sie – gewachsen aus der Volksbewegung „Ruch“ — in der Ukraine schon lange gibt; die Parteien der ehemaligen litauischen Volksbewegung „Sajudis“ werden immer populistischer und nationalistischer, und in Polen drucken renommierte Blätter wie die Gazeta Wyborcza und Zycie Warszawy lange Artikel ehemaliger Oppositioneller über die Möglichkeit, per Diktatur die Reformen weiterzutreiben.
Solche Debatten mögen in Westeuropa abstrus erscheinen, doch sie haben einen historischen Hintergrund: Mit Ausnahme der Tschechoslowakei wurden alle osteuropäischen Länder außerhalb der Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit von Diktatoren regiert. Aber anders als in Westeuropa gilt diese Zeit in Polen und den baltischen Ländern keineswegs als dunkler Fleck in der Geschichte. Von der kommunistischen Propaganda in Bausch und Bogen verbannt, erwuchs sie in der Überlieferung zu geradezu mythischer Verklärung. Denn damals konnten die Staaten Osteuropas kulturell, wirtschaftlich und außenpolitisch ohne weiteres mit den Nachbarn im Westen mithalten. Wie sie mit politischen Gegnern und Minderheiten umgingen, fällt dabei unter den Tisch. Aber so entsteht eine historisches Bewußtsein, in dem autoritäre Herrschaft zum Normalfall und parlamentarische Demokratie zur Ausnahme wird.
In fast allen osteuropäischen Ländern endete die kurze Zeit der Demokratie nach der Unabhängigkeit von 1918 nach sechs bis acht Jahren. Bald ist diese Sanduhr nun zum zweiten Mal abgelaufen. Rechte und linke Diktaturen hatten in Osteuropa meist längere Bewährungszeiten ... Klaus Bachmann, Warschau
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