Abschiebung von Deutschtürken: Gute Deutsche, schlechte Deutsche
Serdar Akin hat türkische Wurzeln, ein beachtliches Strafregister und soll abgeschoben werden. Doch de facto ist Serdar in Berlin geboren. Wer übernimmt die Haftung für solche Lebensläufe?
"Sie werden hiermit aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Dies gilt auch für die übrigen Schengen-Staaten." Da stehen diese Worte, ordentlich getippt, wenige Zentimeter von jenem verflixtem Wort entfernt: "Ausweisung". Mit diesem amtlichen Schreiben vom 5. Dezember 2007 beendet die Ausländerbehörde die Hoffnung von Serdar Akin. Es sind Sätze wie Ohrfeigen. Sätze, die zermürben. Sie fordern ihn auf, seine Heimat am 29. Februar zu verlassen. Er soll aus Berlin in die Türkei abgeschoben werden. Ein Land, das er kaum kennt, von dem die Behörde aber behauptet, es sei seine Heimat. Denn wer in Deutschland mehr schadet als nutzt, muss gehen.
Im Dezember haben ein 20-jähriger Türke und sein 17 Jahre alter griechischer Freund in der Münchener U-Bahn einen deutschen Rentner so brutal zusammengeschlagen, dass dieser einen mehrfachen Schädelbruch erlitt. Der Rentner hatte die beiden zuvor gebeten, ihre Zigaretten auszumachen.
Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) machte die Gewalttätigkeit junger Migranten zum Landtagswahlkampfthema.
"Wir haben zu viele kriminelle Ausländer", sagte Koch und fordert ein strengeren Strafvollzug für junge Täter und eine raschere Abschiebung krimineller Migranten. Die CDU büßte in Hessen mit dem hetzerischen Wahlkampf ganze 12 Prozent ein. Nach dem Absturz haben sich jetzt 17 Unionskollegen von den ausländerfeindlichen Tönen Kochs distanziert. Initiator des Briefes ist der nordrhein-westfälische Integrationsminister Armin Laschet, Mitunterzeichner sind unter anderen der wahlkämpfende Hamburger Erste Bürgermeister Ole von Beust und die bayerische Sozialministerin Christa Stewens. CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel verteidigte den Hessen. "Roland Koch hatte in seinem Wahlkampf die volle Unterstützung der CDU und meine als Vorsitzende", sagte Merkel.
Der 33-Jährige sitzt in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel. Seit seiner Kindheit ist er ein Stammgast bei den Behörden. Sein Strafregister hat zahlreiche Eintragungen wegen Diebstahl, Körperverletzung und Drogendelikten. Serdar hat viele Stationen hinter sich, begonnen hat alles in Berlin. Seine Großmutter kam 1963 aus Ankara in die Stadt und holte erst später ihre Tochter, Zehra Akin, nach. Gemeinsam arbeiteten sie in Fabriken, standen am Fließband und hatten sich Deutschland irgendwie anders vorgestellt. Weil das Sortieren im Akkord nicht alles sein konnte, begannen Mutter und Tochter gemeinsam auf kleinen Bühnen zu schauspielern und zu singen. Zehra verliebte sich und bekam mit ihrem Ehemann drei Kinder. Gülay, Tülay und Serdar. Die Ehe hielt nicht lang und irgendwann war die Türkin eine alleinerziehende Mutter und der gesellschaftliche Druck wuchs. In der türkischen Nachbarschaft gab es damals ganz viele, die wussten alles ganz genau. Sie kann ihre Kinder nicht richtig erziehen. Was ist das denn für eine Muslimin, die ihren Töchtern Freiheiten erlaubt? Das kann nicht gut enden, wurde über die Familie gelästert.
Trotzdem hat Zehra die Freiheit ihrer Töchter verteidigt, schickte ihre Kinder zu den Klassenfahrten, feierte Weihnachten mit ihnen. Wenn man sich Bilder von der Familie aus jenen Tagen anschaut, sieht man eine Frau mit ihren drei Kindern lachen. Gemeinsam spazierend an der Nordsee, die Mutter hält ihre gelben Gummistiefel in die Kamera. Aber irgendwann ist Serdar, der Kleinste der Familie, seiner Mutter entglitten. Er lebte in keinem emotionalen Notstandsgebiet, die Mutter bemühte sich, aber sie war überfordert und konnte ihren Sohn nicht mehr bändigen. Der ständige Druck der Gesellschaft habe ihren Bruder erdrückt, erzählt Gülay. "Wir waren immer die Exoten für die deutsche und die muslimische Gemeinde. Ständig mussten wir uns erklären", sagt die Schwester rückblickend.
Mit 13 kam Serdar in ein Jugendheim, das war der Bruch in seiner Biografie. Es folgten Diebstähle, ständiger Ärger mit den Lehrern, irgendwann der erste Joint. Mit sechzehn muss er eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, denn vorher war sein Status über die Eltern gedeckt. Seine Betreuer versäumen es, seine Papiere einzureichen. Deswegen bekommt er nur noch befristete Aufenthaltsgenehmigungen. Mal für ein Jahr, mal für wenige Wochen.
Es ist ein provisorisches Leben, das Serdar führt. Er befindet sich in einer Endlosschleife: vom Heim in eine Wohngemeinschaft, zwischendurch die Gänge in die Ausländerbehörde. Mit zwanzig der erste Heroin-Konsum und Beschaffungskriminalität - dann 1996 das Urteil: "Raub in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung". Es folgen drei Jahre Gefängnis und er bekommt den ersten Ausweisungsbescheid. Weil Serdar in der Zelle versucht sich umzubringen, kann er aber nicht in die Türkei abgeschoben werden. Nach seiner Haftentlassung bekommt er eine befristete Aufenthaltserlaubnis, ist clean und motiviert. Alles soll gut werden.
Aber nichts wird gut, im Gegenteil: Die Abstände zwischen den Abstürzen werden immer kürzer. Er nimmt wieder Drogen, wandert von Behörde zu Behörde, die Mutter stirbt. Der Gang ins Ausländeramt ist das Einzige, was in Serdars Leben Bestand hat. Dann wieder eine Verurteilung wegen Diebstahl, Nötigung und dem unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln. Seit 2007 sitzt Serdar wieder im Gefängnis Berlin-Tegel und soll von dort direkt in die Türkei abgeschoben werden. "Aufgrund ihres gesetzwidrigen Verhaltens ist die Überwachung ihrer Ausreise aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich", steht in dem Abschiebebescheid, und weiter: "Sie erhalten daher keine Gelegenheit, freiwillig auszureisen, sondern werden unmittelbar mit ihrer Entlassung aus der Haft in ihren Herkunftsstaat Türkei abgeschoben." Er ist erst vier Mal dort gewesen und spricht kaum Türkisch. Was er da soll, wisse er nicht.
Etwas sarkastisch könnte man sagen "Selbst Schuld"! Es gab ausreichend Hilfsangebote, er hätte doch einfach nur etwas Durchhaltevermögen haben müssen. Er hätte doch einfach einen deutschen Pass beantragen können. Dann könnte ihn niemand mehr abschieben. Man könnte aber auch sagen, er ist ein Produkt der deutschen Gesellschaft. Hier wurde er gezeugt, hier wurde er geboren, Serdar hat sich nie als Migrant gefühlt. Seine Freunde sind überwiegend Deutsche, sein Werdegang ist deutsch, er träumt auf deutsch und verdeutlicht, dass "Deutschsein" anders aussieht als blond und blauäugig. Aber diese Argumente zählen kaum bei der Ausländerbehörde. "Ihrem Individualinteresse an einem Verbleib in der Bundesrepublik steht auf der anderen Seite jedoch entgegen, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufgrund der von ihnen begangenen Straftaten in besonders schwerwiegender Weise beeinträchtigt worden ist", heißt es im Ausweisungsbescheid.
Worte, die dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) gefallen dürften. Nach dem brutalen Überfall von zwei Migranten auf einen deutschen Rentner in der Münchner U-Bahn sprach er von "multi-kultureller Verblendung" und möchte das "Problem" am liebsten Abschieben. "Wir haben zu viele kriminelle junge Ausländer", befand Koch und bekam Rückendeckung vom NPD-Parteivorsitzende Udo Voigt. "Wenn etablierte Politiker NPD-Argumente übernehmen, dann wird das auch dazu führen, dass immer mehr Bürger Vertrauen in die Politik der NPD gewinnen und diese wählen. Herr Koch, bleiben Sie hart und fair. Mit der Unterstützung der NPD können sie in diesem Fall rechnen", lobte Vogt Koch. Bei solch populistischen Debatten darf aber ein Aspekt nicht übersehen werden. Es geht um die Frage, die viel zu wichtig, viel zu grundlegend ist, um sie im Ton mit den Argumenten zänkischer Kneipenwirte abzuhandeln. Es geht darum, wer eigentlich die Heimat eines Menschen bestimmen darf.
"Ich habe nie verstanden, dass mich Deutschland nicht will", sagt Serdar. Er sei doch ein Deutscher. Dass er sich nicht immer richtig verhalten habe, weiß er. Eigentlich müsste er Deutschland verfluchen, aber das kann er nicht, dann wäre er heimatlos.
Den Wunsch, als Deutscher unter Deutschen zu leben, will er nicht aufgeben. "Ich habe versucht, böse auf die deutsche Gesellschaft zu sein, aber es hat nicht funktioniert", erzählt Serdar. Er fühlt sich als Berliner, "das ist doch hier meine Heimat".
Aber so einfach ist das alles nicht. Wer Teil dieser Gesellschaft ist, definiert das hiesige Recht sehr genau. "Nach dem Staatsangehörigkeitsrecht ist deutscher Staatsangehöriger, wer die deutsche Staatsangehörigkeit erworben und nicht wieder verloren hat. Jeder Person, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, stehen in der Bundesrepublik Deutschland die gleichen Rechte und Pflichten zu, unabhängig davon, auf welche gesetzlich vorgesehene Weise die Staatsangehörigkeit erworben wurde", so definiert es das Bundesinnenministerium. Menschen mit Migrationshintergrund, die hier geboren werden, müssen ihre Einbürgerung beantragen. Wer das nicht macht, dem kann es praktisch wie Serdar ergehen.
Das Menschenrecht auf Heimat, das in anderen Zusammenhängen häufig hervorgehoben wird, ist hier ein wenig diffus geraten.
Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts macht Hoffnung, dass die restriktive Rechtsprechung einen humaneren Kurswechsel einschlägt. Dieses hatte im August 2007 eine grundlegende Entscheidung zur Ausweisung von langjährig hier lebenden Ausländern getroffen, welche auch für Serdar bedeutsam sein könnte. Ein im Iran geborener Mann, der 1987 die unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Deutschland erhielt, sollte abgeschoben werden. Der Mann wurde mehrfach wegen des unerlaubten Besitzes und dem Handel von Betäubungsmitteln verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht stoppte die Abschiebung, um sicherzustellen, dass "faktische Inländer" nicht ohne eine individuelle Betrachtung ihres Falles ausgewiesen werden können.
Was passiert, wenn Serdar abgeschoben wird? Was wirklich in ihm vorgeht, was er wirklich denkt, das verrät Serdar nicht und wehrt lieber ab. Es gehe schon irgendwie weiter, darüber möchte er nicht nachdenken. Seine Schwester Gülay stellt sich diese Frage ständig. Sie hat in den letzten Wochen wenig geschlafen, ist nervös und verzweifelt: "Ich habe Angst, dass er in der Türkei den Freitod wählt."
Unter dem Motto "Keine Abschiebung ist legal!" findet am 21.02.08 ab 21h eine Soliparty, für die Anwaltskosten von Serdar Akin im Berliner SO 36 statt.
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