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AbgehaktZeitvertreibung

■ Nichstun ist ein derartiger Luxus, dass er sofort vergesellschaftet werden muss

Freizeit? Drauf ge...! Meine jedenfalls ist offenbar ein Konto, auf das jedermann und vor allem eine Frau Zugriff haben. Und sich da auch reichlich bedienen. „Du hast am Montag frei? Da könntest du doch endlich mal ... eine neue Lampe kaufen, den Klempner kommen lassen und – ach ja – X. hat doch demnächst Geburtstag, da könntest du dir doch schon mal ein Geschenk ausdenken.“

So kann einem auch die Zeit vertrieben werden. Anscheinend denkt die Welt, ich würde mir sonst nur in der Nase bohren. Das tue ich zwar gelegentlich, aber angesichts der Wartezeiten in Arztpraxen oder auf den Gängen des Finanzamts, wo meine Freizeit allemal zuerst die Brotzeit der anderen ist, deucht mich die Pflege meines Riechorgans eben die sinnvollste Art der Freizeitgestaltung.

Nichstun ist in den Augen meiner Co-Hominiden offenbar ein derart unerhörter Luxus, dass er sofort vergesellschaftet werden muss. Selbst die an sich harmlose Lektüre einer Zeitung provoziert mit erbitternder Automatik den Hinweis: „Die kannst du doch auch nachher noch lesen, willst du nicht erstmal ...?“ Nein, ich will nicht, sonst würde ich ja bereits. Aber irgendwie habe ich es wohl verabsäumt, mich als selbstbestimmtes Individuum zu etablieren.

Meine freieste Zeit ist paradoxerweise die, wenn ich im Büro vor dem Computer sitze und auf den blanken Monitor blicke. „Nicht stören, der Mann denkt!“ schwebt dann in unsichtbaren Lettern über mir im Raum. Was natürlich das Telefon nicht daran hindert zu klingeln und mich aus mentalen Spaziergängen durch ein frühlingshaftes Paris oder ähnlich anregende Orte der Erinnerung zu reißen.

Gänzlich frei von Zeit, das wär's. Sinnen und Sein sozusagen. Andererseits: Was kommt dabei raus? Selbst ein Meistersinner wie Heidegger hat – getragen von einer wohligen Woge des Nichtstuns – umgehend ein paar hundert Seiten über Sein und Zeit aufs Papier geworfen. Ich frage mich nur, ob auch er unterwegs bisweilen die Worte vernommen hat: „Martin, das kannst du doch später noch weiterschreiben, willst du nicht erst mal...?“

Heinz-Günter Hollein

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