AUFLÖSUNG DES UKRAINISCHEN PARLAMENTS KANN ZU MEHR CHAOS FÜHREN : Juschtschenkos Befreiungsschlag
Offensichtlich ist das Maß für den ukrainischen Staatspräsidenten Wiktor Juschtschenko endgültig voll. Mit seiner Entscheidung, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, will der einstige Hoffnungsträger auf eine demokratische Erneuerung der Ukraine jetzt die politische Dauerkrise lösen.
Zugegeben: Juschtschenko hatte kaum noch andere Optionen, um seine völlige Demontage zu verhindern. Spätestens seit dem Inkrafttreten der Verfassungsänderungen Anfang 2006 ist eine schleichende Entmachtung des Staatschefs im Gange. Zuletzt musste Juschtschenko auch noch mit ansehen, wie elf Abgeordnete der Opposition ins Regierungslager überliefen – zur großen Freude des einstigen Wahlfälschers und jetzigen Premiers Wiktor Janukowitsch. Der wartet nur darauf, genug Parlamentarier um sich sammeln zu können, um die Verfassung im Alleingang zu ändern. Mit zu Juschtschenkos Entscheidung dürften auch die tausenden Anhänger des „orangenen Lagers“ beigetragen haben, die zu seiner Unterstützung am Samstag durch Kiew zogen.
Die Frage ist jedoch, ob Jutschtschenkos Befreiungsschlag die Krise entschärft oder das Land weiter ins Chaos führt. Für Letzteres spricht der Umstand, dass momentan weder Politiker noch Juristen willens und in der Lage sind, mit der geänderten Verfassung und den Gesetzen umzugehen. So ist unklar, ob Jutschtschenkos jetzige Entscheidung überhaupt rechtmäßig ist – genauso wie der Beschluss des Parlaments, die Auflösung zu ignorieren. Hinzu kommt noch, dass auch Neuwahlen kaum andere Mehrheitsverhältnisse im Parlament ergeben würden.
Wie auch immer die weitere Entwicklung verläuft: Der Machtkampf, in dem Juschtschenko wieder die Initiative an sich gerissen hat, ist brandgefährlich. War 2004 noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft eine der Antriebskräfte für die friedliche orangene Revolution, so herrschen heute, nach monatelangem Chaos und politischem Schmierentheater Frust, Enttäuschung beziehungsweise das sture Festhalten am Status quo vor. Sollten sich diese Emotionen auf der Straße gewalttätig entladen, wäre das eine Katastrophe. BARBARA OERTEL