■ AUF RUSSISCH GEDACHT: Übergangsmusik
Zuerst drängelte sich durch die sich öffnende Tür des U-Bahn- Wagens ein ausgepackter Kontrabass. Hinter ihm — sein Besitzer. Auf den Fersen folgten ihm noch zwei Leute mit Gitarren. Die U-Bahn setzte sich in Richtung Zoo in Bewegung und die Musikanten begannen zu singen, aufeinander abgestimmt und unaufdringlich, indem sie ein wenig an den Seiten zupften und offensichtliches Vergnügen bereiteten. Die Passagiere fingen an zu lächeln, einige lasen weiter.
Bis zu meinem Umzug nach Berlin dachte ich, daß Straßenmusikanten im vergangenen Jahrhundert geblieben seien.
Auf den Berliner Bürgersteigen und Plätzen — besonders im Zentrum, an Tagen mit schönem Wetter und am Ende der Woche — gerätst du nun in die Naturkraft eines Jahrmarktes oder eines Festes. Eigenartige Vorstellungen entstehen, Attraktionen. Es singen und spielen Laien und Professionelle, Ensembles und Alleinunterhalter aus allen Ecken der Welt.
Sie zaubern raffinierte Rhythmen afrikanischer Trommler, sie verzaubern silberhell-durchsichtige Fiorituren? Peruanischer Samponi? Mächtig herrschen sie über die starken Akkorde der elektrischen Orgel. Irgendein nicht endender Feiertag, freundlich und großzügig/wertvoll. Ein nicht geplantes Vergnügen, Abstraktion, Umschalten? — immer wieder lauert das Unerwartete.
Dies befindet sich an der Oberfläche, unter offenem Himmel. Zwei Stockwerke tiefer jedoch, im Untergeschoß, im Halbdunkel der Tunnel und U-Bahn-Übergänge existiert eine andere Welt, eine andere Atmosphäre. Über den halbrhythmischen eiligen Schritten, über der Monotonie der Ausrufe »Zurückbleiben!«, über dem periodischen, anwachsenden und abrückenden Krachen der U-Bahn schweben klassische Melodien. Es mischen sich Instrumente, Komponisten, Stile. Heute hörst du Bach, gestern waren es Guno? oder Mozart, morgen — Schubert oder Händel.
Und gerade hier fühlst du plötzlich, dies ist keine Attraktion mehr, kein Vergnügen, sondern irgend etwas, was bei weitem tiefergeht. Die unterirdischen Gewölbe mit ihrer widerhallenden Akustik — wie in einem Tempel — wirken sie magisch, die weichen Reihen und der gleichförmige Laut der Gitarren verwandelt ängstliche Rezitative der Klarinette, leichte Lichtflecke der Xylophon-Passagen oder die Beichte einer verträumten Geige in Momente der Meditation, des Eintauchens in die Stille und in Konzentriertheit.
In den Übergängen spielen einzelne Musiker. Mir gefällt ihre Unabhängigkeit, die volle Zurückgezogenheit von der Umgebung. Die Musiker reisen von Station zu Station, und in dieser Unbeständigkeit, dieser Fluktuation verbirgt sich das besondere Vergnügen. Schon beim Aussteigen aus dem U-Bahn-Wagen erwartest du eine Überraschung. Nicht selten jedoch erlebst du eine Enttäuschung: der Übergang ist leer von ihnen, nicht von der Musik durchgeistigt.
Ich sah, wie an der Spiechernstraße zwei freundliche Polizisten an einen Flötisten herantraten. Sie zogen unter ihrem Futteral mit Kleinigkeiten einen gelben Zettel hervor, studierten ihn aufmerksam, und dann schlugen sie dem Musikanten vor, an einen anderen Ort zu wechseln — näher zum Ausgang, direkt in die Zugluft. Warum? Es scheint, daß es den Verkauf der Blumen stört... Sollte ich in der Stadtverwaltung sein, ich würde nicht gerade diese gegenwärtigen fahrenden Sänger/Troubadoure zwingen, daß sie für das Recht zahlen müßten, Tausenden Vorübergehenden ihre musikalischen Gaben zu schenken. Aber ich bemühte mich, sie zu unterstützen, indem ich ihnen zum Beispiel eine kostenlose Krankenversicherung garantierte.
Denn die Musikanten der Straßen und unterirdischen Übergänge verschönern die Stadt, sie verschaffen ihr klangliches Design, sie erweichen die Dissonanzen und Spannungen des Tages. Ist es nicht so? Außerdem, blieben denn dem heutigen mittlerem Stadtbewohner Inselchen, wo er Glück haben könnte, unmittelbar mit lebendigem Musizieren in Berührung zu kommen? Wie viele haben heute denn Zugang zu den philharmonischen Konzerten mit ihren verrückten Preisen?
...Einige Vorübergehende verlangsamen ihre Schritte, andere nicht. Dort sind/sehe ich Eltern mit einem ungefähr vierjährigen Kind. Sie halten es von beiden Seiten an der Hand und ziehen es hinter sich her. Der Kleine schaut sich immer wieder nach dem Geiger um, schnell setzt er seine Füße um, stolpert, schaut sich wieder um, trippelt, kann sich kaum vom Boden losreißen — die Erwachsenen gehen schnell! Und über ihnen, hinter ihnen erschallt Ave Maria. Die Melodie holt sie durch den Übergang ein, überholt sie — bis die Tür des U-Bahn-Wagens sich schließt.
Wer wird dich morgen hören, Geiger? Maja Elik
Übersetzung: Susanne Landwehr
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