AUF NACH WESTEN! EINE NEUE KOLUMNE STELLT SICH VOR : Die neuen Welt- und Zeitreisen – sogar bis hin nach Charlottenburg
VON DIRK KNIPPHALS
Neulich kamen zwei Schriftsteller zu einem kleinen gesellschaftlichen Event nach Charlottenburg. Mit dem Fahrrad. Ganz vom Prenzlauer Berg. „Das ist aber ganz schön weit“, sagte der eine. Und er blickte sich auf eine Art um, die einen nachfragen ließ: „Du bist aber schon mal im Westen gewesen, oder?“ „Doch, schon.“ Dann musste er lange überlegen, in welchem Jahr das wohl gewesen war. „2006, nein, Moment, 2005 oder so.“ Der andere Schriftsteller lächelte dazu fein und wissend.
Alles in allem fühlte man sich an jene Szene aus Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ erinnert, in der die Hauptfigur von Kreuzberg nach Charlottenburg mit dem Bus fährt und das als ebenso strapaziös wie eine Weltreise empfindet. Zwischen dem Prenzlauer Berg und Charlottenburg scheinen noch ähnliche Welten zu liegen.
Auch von Schöneberg aus ist es bis Charlottenburg ganz schön weit, gerade mentalitätsmäßig. Aber gegen Prenzlauer-Berg-Bewohner ist man doch geneigt, Westsolidarität zu üben. Viel zu oft stößt man nämlich noch auf die Ansicht, dass sich seit dem Mauerfall die wichtigen Verschiebungen in Mitte und Prenzlauer Berg zugetragen hätten – während im Westen alles im Wesentlichen so weitergegangen sei wie zuvor. (Kreuzberg als exterritoriales Gebiet lassen wir jetzt in diesem Ost-West-Schema mal außen vor.) Einerseits Labor Berlin also – und andererseits im Westen nichts Neues. Aber das stimmt so natürlich gar nicht. Die Veränderungen im Westen mögen vielleicht subtiler gewesen sein, aber sie sind auch genauso einschneidend gewesen wie in den Ex-Ostbezirken. Was wir Westbewohner inzwischen auch immer selbstbewusster behaupten.
Bevor wir in dieser Kolumne einmal monatlich diesen Veränderungen nachgehen wollen, muss – ohne alle Triumphgefühle übrigens, na ja, zumindest ohne allzu viele Triumphgefühle – erst einmal etwas festgehalten werden: Noch vor einigen Jahren hat man sich gedanklich in der Defensive gefühlt, wenn es am Rande eines Kulturereignisses um diese eine Frage ging, die kaum irgendwo so wichtig ist wie in Berlin. „Und, in welchem Viertel wohnen Sie eigentlich?“ Sagte man „Schöneberg“, wurde man leicht mitleidig angeguckt. Wer nicht schwul war, konnte als Schöneberger nur satt, zufrieden, gesettelt, abgehängt und unambitioniert sein, vielleicht nicht ganz aus der Welt gefallen, aber irgendwie doch jenseits aller Angesagtheitscodes.
Aber mittlerweile ist das anders. Mittlerweile herrscht Waffengleichheit, und nicht immer kann man sich ein wissendes Lächeln verkneifen, wenn jemand bei solchen Gelegenheiten „Prenzlauer Berg“ sagt. Spätestens in zehn Jahren wird es dort sowieso charlottenburgischer sein, als Charlottenburg selbst jemals war. Und schon bald wird man es für eine typische Berliner Kiezmarotte halten und nicht mehr für einen Ausdruck von hegemonial abgesichertem Prenzlberg-Narzissmus, wenn jemand von dort Fahrten in andere Stadtteile schon als ausgewachsene Fahrradtouren empfindet. Damit kann man die Was-ist-angesagt-Frage nun beiseite lassen. Wo doch, wer inzwischen neu in Berlin ankommt, sich eh als erstes in Neukölln umguckt. (Außer der Suhrkamp-Verlag, aber das ist wiederum eine andere Geschichte.)
Was sich im Westen geändert hat, ist vor allem zweierlei. Zum einen gibt es dieses unfreiwillig komische Foto nicht mehr, auf dem Harald Juhnke am Bahnhof Zoo für ein Chinarestaurant warb. Das kannte früher jeder. Überhaupt, diese satte Eingefasstheit des alltäglichen Lebens in dieses typisch Berlinerische – Berliner Schnauze, Berliner Sumpf, Berliner Kohleofenluft –, wo ist die eigentlich geblieben? Weg. Verpufft. Die findet man noch nicht mal mehr auf den Touristeninszenierungen.
Zum anderen ist, noch viel entscheidender, auch das Transitbewusstsein weg, das die Westberliner intellektuellen Eliten mit den künstlerisch-bohemistischen Subkulturen verband. An einem Nichtort zu leben, irgendwie irreal, aber gerade deshalb frei – dieses Bewusstsein muss man längst archäologisch heben.
Aber was ist an die Stelle getreten? Mal nachsehen! Auf nach Westen! Wie gesagt, ab jetzt einmal im Monat auf diesem Platz.