AUCH DIE DEUTSCHEN SOLLTEN ENDLICH ÜBER EUROPA ABSTIMMEN : Falsches Motiv, richtige Wahl
Jetzt wachen die Deutschen langsam auf. Erst England, dann Frankreich – wenn es so weitergeht, steht Deutschland am Ende womöglich als das letzte EU-Land da, das die neue Verfassung ohne Volksabstimmung durchwinkt. Und womöglich sogar als das einzige Land, das in einem euroskeptischen Europa überhaupt noch bei der Stange bleibt.
Die Art und Weise, wie das Referendum jenseits des Rheins nun zustande kommt, ist in der Tat wenig appetitlich. Nicht das Volk ergreift die Initiative, sondern der Präsident sucht die Flucht nach vorn – aus Gründen, die weniger in Europa zu suchen sind als in Jacques Chiracs innenpolitischer Rivalität mit seinem Widersacher Nicolas Sarkozy. Doch das Volk reagiert höchst empfindlich, wenn es auf solch plumpe Art instrumentalisiert wird.
Selbst gute Umfragewerte können sich dann rasch ins Gegenteil verkehren. Das sollte Chirac eigentlich wissen, seit er 1997 vorgezogene Neuwahlen ansetzte und damit dem Sozialisten Lionel Jospin das Amt des Premierministers bescherte. Gegen ein Referendum als solches sprechen derlei Begleitumstände freilich nicht. So leidet in Deutschland das Verhältnis zwischen Ost und West noch immer unter dem Makel, dass die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ohne Volksabstimmung vollzogen wurde.
Während die Ostdeutschen bei der Volkskammerwahl im März 1990 immerhin noch ein klares Votum abgeben durften, wurden die Westdeutschen nicht einmal gefragt. Das Gefühl, lediglich von einem Naturereignis überrollt worden zu sein, trägt zum rheinischen Unmut über das Milliardengrab an der Elbe bis heute ganz wesentlich bei.
Nicht anders verhält es sich jetzt mit der Vereinigung Europas: Das Argument, die Deutschen hätten aus historischen Gründen ohnehin keine andere Wahl, als in dem gemeinsamen Staatenbund aufzugehen, wird zur Vermittlung auch unangenehmer Entscheidungen auf Dauer nicht genügen. Ein Referendum nimmt das Volk auch in die Pflicht. Die billige Ausflucht, „die da oben“ machten sowieso, was sie wollten – sie wäre den Wahlbürgern dann versperrt. RALPH BOLLMANN