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ARM ZU SEIN, WENN KEINER VIEL HAT UND VIELES NICHTS KOSTET, IST NICHT SO SCHLIMM. WER ABER IN EINER REICHEN GESELLSCHAFT ARM IST, GILT ALS SCHWACH: DAS KANN WÜTEND MACHENArme Kinder in einem reichen Land

Foto: Lou Probsthayn

FREMD UND BEFREMDLICH

Katrin Seddig

Als ich ein Kind war, hatte ich kein Pferd, keinen Musikunterricht, kein Taschengeld. Ich hatte keinen Computer, keinen Fernseher und keine Musikanlage. Ich trug hauptsächlich gebrauchte Kleidung. Ich fuhr nie in den Urlaub und ich ging nie shoppen.

Was ich allerdings hatte, waren Geschwister, einen Hund, ein altes Fahrrad, Wald und einen See, an dem auch die meisten anderen Kinder bei uns ihre Sommerferien verbrachten, weil die meisten anderen Kinder bei uns auch nicht in den Urlaub fuhren. Die meisten Eltern hatten Schweine oder Hühner oder andere Gründe, nicht in den Urlaub zu fahren.

Als ich Kind war, fühlte ich mich also, trotz allem, nicht arm. Ich lieh mir in den Ferien Unmengen Bücher aus der Gemeindebibliothek aus und aß mich voll mit Kirschen, Erdbeeren, Stachelbeeren, Äpfeln und Pflaumen. Wir hatten kaum Geld, aber viele Dinge kosteten einfach nichts. Und die Dinge, die nichts kosteten, waren im Überfluss vorhanden.

Dass jemals nicht genug zum Essen da sein könnte, kam mir nicht in den Sinn. Es gab im Sommer alles an Obst, im Winter das Eingelagerte und Eingeweckte. Es wurde gebacken und getrocknet und gekocht. Meine Geschwister und ich, wir fühlten uns einfach nicht arm.

Im Nachhinein betrachtet sind wir es wohl gewesen. Aber wir lebten in einem Umfeld, in dem es nicht viele Dinge gab, die man sich als Kind hätte kaufen wollen, und in dem die meisten anderen Kinder ähnlich arm waren. Also waren wir, im Verhältnis gesehen, gar nicht besonders arm. Wenn es jetzt heißt, dass Kinder in Deutschland arm sind, dann geht es um eine nicht so viel andere Art von Armut. Es geht nicht um die Art Armut, in der Kinder verhungern. Es geht nicht um die Art von Armut, in der Eltern nicht mit ihren Kindern zum Arzt gehen können. Es geht nicht um die Art Armut, wo Eltern weit weg arbeiten, die Kinder sich allein überlassen und vielleicht betteln lassen müssen. Es geht um die Armut von Kindern in einem reichen Land.

Im Norden Deutschlands ist die Kinderarmut gestiegen, sagt die Bertelsmann-Stiftung, die eine Studie in Auftrag gegeben hat. Im Norden sieht es demnach gar nicht gut aus. In Bremerhaven leben sogar 40,5 Prozent der Kinder in Armut. Der Bundesdurchschnitt liegt der Studie nach bei 14,3 Prozent, in Hamburg aber schon bei 20,8 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern bei 21,4 Prozent.

In den Städten ist der Anteil der armen Kinder höher als auf dem Land. Gerade in den Städten sind die Lebenshaltungskosten aber hoch und die Lebensqualität kann nicht durch Natur und Gärten erhöht werden. Kinder, die in Mietwohnungen im elften Stock arm sind, sind tendenziell schlechter dran, als die, die vielleicht am See aufwachsen. Sie haben weniger Möglichkeiten, sich zu bewegen und sie spüren ihre Armut mehr.

Sie spüren sie in der Schule, wenn sie ärmer gekleidet sind, sie spüren sie, wenn sie nach der Schule nicht mit Eis essen gehen können, sie spüren sie, wenn die anderen Kinder nach Italien fahren und sie spüren sie, wenn sie am Wochenende nicht mit ins Freibad, ins Kino oder an die Ostsee können.

Man kann allerlei machen, auch ohne Geld. Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass Kinder in einer Gesellschaft, in der Geld einen so hohen Stellenwert hat, den Status des Schwächeren haben. So nennt man sie dann: die sozial Schwachen oder Schwächeren. Können dies und jenes nicht mitmachen. Sehen auch nicht cool aus. Falsche Schuhe, falsche Klamotten. Kommen nicht mit in den neuen Film, laden nicht zum Geburtstag ein.

Was bleibt, ist Fernsehen mit den Eltern, auf die man vielleicht nicht stolz ist, weil sie es selbst nicht sind. Und dann wächst da was heran, was Wütendes. Denn gerecht ist es nicht, wenn einer schon in ein Schwachsein hineingeboren wird, obwohl er vielleicht alle Kraft der Welt hat.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

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