ARCHITEKTURVERNISSAGEN SIND DAS NEUE DING, LEIDER VERLÄSST DER SEISMOGRAF DES KULTURLEBENS DIE STADT, WÄHREND DIE REVOLUTION IN DER RENOVIERUNG VERSCHWINDET : „Fun Fun Fun“ im Bauhaus
TIMO FELDHAUS
Halleluja, Jesus lebt. Jesus lebt. Jesus lebt. Es ist ein Wochenende der Ohrwürmer. Die Konzeptkünstlerin und Hobbymusikerin Michaela Meise trägt in der Mediathek Image Movement auf der Oranienburger Straße mit geschlossenen Augen und Akkordeon katholische Kirchenlieder aus der Renaissance vor. Bei dem Stück „Jesus lebt“ wird sie von Dirk von Lowtzow begleitet. Wir denken viel an Jan Joswig. Er befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits an der Grenze zu Bayern. Aber dazu später mehr.
Das andere Lied des Wochenendes ist „Friday“ von Rebecca Black. Das bereits 75 Millionen Mal bei Youtube angeschaute Video eines 13-Jährigen Kindes reicher Amerikaner wurde von allen zum schlechtesten Lied des Universums gekürt. Doch einmal im Kopf, ist es kaum wieder herauszumeißeln. Als wir im Buchladen Pro qm einer Präsentation der Zeitschrift des Dessauer Bauhaus lauschen, hämmert Black: „Yesterday was Thursday, Today is Friday, Tomorrow is Saturday, And Sunday comes after …wards!“ Wenn Bauhaus-Stiftungschef Oswaldt erklärt: „Die Rhetorik einer Nichtgestaltung ist auch eine Gestaltung, und der Umgang mit der Schwere das Erbe der Avantgarde“ – im Kopf bleibt: „Fun Fun Fun.“ Am nächsten Tag im HBC stellt das Architekturmagazin Arch+ seine Berlin-Ausgabe vor, von dessen Cover grimmig der Türsteher des Berghain herabschaut. Archvoll hier, meint Nina. Jan Joswig schrieb in einem seiner letzten Berliner Beiträge, wie die junge Mittelschicht das Wohnen als erweiterte Distinktionsspielwiese entdeckt. Statt wie vor zehn Jahren noch Kleidercontainer zu plündern und in seiner WG vorzuführen, etablieren sich nun Baugruppen als die linke Antwort auf Town Houses. Der Kulturjournalist Joswig war das gute Gewissen Berlins, der größte Seismograf des hauptstädtischen Kulturgeschehens der letzten zehn Jahre. Freier Schreiber, DJ, Tänzer und gerade zum Motorradfahrer entwickelt, werden spätere Generationen ihn als den Franz Hessel der Nullerjahre erinnern, der in kürzesten Zeilen stets das ganz große Bild der kulturpolitischen Umbrüche Berlins destillierte und in modischen Oberflächen die tiefen Risse darstellte. Allein sein verschmitzter Vollbart ließ einen die Balance halten auf dem schmalen Grat eines Kulturlebens, dem langsam die Freiräume abhandenkommen und in dem eine ganze Generation von Protagonisten sich ins Private zurückzieht. Er schreibt nun von Porto aus. Am Sonntag schwang er sich auf seinen knallroten Feuerstuhl und fuhr dahin. Ich fuhr in die andere Richtung nach Hause, am Schöner-Wohnen-Luxus-Projekt Living Bauhaus vorbei, eine Träne im Augenwinkel.
Wir wollten auch flüchten. Raus aus der Stadt, wenigstens für einen Tag. Nach Dessau. Auf dem Weg schneiden wir Rebecca Blacks „Fun Fun Fun langsam mit „Fahrn Fahrn Fahrn“ (auf der Autobahn) von Kraftwerk aus dem Hirn.
Mal vorstellen muss man sich: Als 1926 Walter Gropius’ Siedlung Törten entstand, war dort ein einziges Auto angemeldet. Pferdekutschen fuhren durch die Straßen an den weißen schnurgeraden Bauhäusern vorbei. Während wir im Meisterhaus von Kandinsky sitzen, geht auf den iPhones die Meldung ein, dass sie in Japan, der modernsten der Roboternation(EN), versuchen, das Leck in einem Atomreaktor mit Holzspänen und Zeitungspapier zu stopfen. An der Elbe essen wir „Hering à la Berliner Morgenpost“ und beobachten das Verschwinden der Revolution in der Renovierung. Am Ende fragen wir unsere dreijährige Begleitung, wo wir den Tag verbracht haben. Sie sagt: Baumhaus. Die Frage nach dem Hier und Jetzt verlangt aktuell nach unzeitgemäßen Antworten.