ANDREAS MOHR, PROFESSOR FÜR KINDERSTIMMENBILDUNG : Singen wider Adorno
■ Professor für Kinderstimmenbildung, leitet an der FH Osnabrück den Studiengang „Singen mit Kindern“. Foto: privat
„Viele Kinder in Deutschland können nicht singen“, fällt Andreas Mohr ein hartes Urteil, „und das Schlimmste ist, die heutigen Musiklehrer können es auch nicht“. Gewichtige Worte, schließlich ist Mohr einer der führenden Musikwissenschaftler für Kinderstimmenbildung.
Angehende Studenten des Professors müssen neben theoretischen Wissensnachweisen eine Gesangs- und Gehörprüfung absolvieren. Er selbst wuchs in einer musikalischen Familie in Linz am Rhein auf und singt seit dem Kleinkindalter. Dieser musikalische, soziale Rückhalt fehle den meisten Kindern der Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg, sagt Mohr.
Intellektuelle, wie der Philosoph und Musiksoziologe Theodor W. Adorno forderten die Abkehr vom deutschen Liedgut der Nationalsozialisten. „Nirgends steht geschrieben, dass Singen not sei“, schrieb Adorno und forderte einen „intellektualisierten“ Musikunterricht. „Das bedeutet über Musik reden und denken, aber nicht machen“, sagt Mohr. Adorno war nach 1945 entsetzt über die weiterhin vollständig unreflektierte Musikpraxis. „Ich kann seine damalige Reaktion gut verstehen, aber seit den 90ern ist diese Anschauung überholt.“
Mit gemischten Gefühlen beobachtet Mohr das Revival des Gesangs in Form von Castingshows. „Es ist schon beeindruckend, dass sich dort zehntausende Menschen bewerben.“ Aber dass Kinder mit Popliedern singen lernen sei falsch, ja sogar gefährlich: „Wenn die Kleinen dann mit Rockröhren wie Nina Hagen mitsingen, kann das die Gesangsstimme unwiederbringlich schädigen“, warnt Mohr. Allein aus physiologischen Gründen wären traditionelles Liedgut oder einfache Abzähllieder besser für die zarten Stimmchen geeignet. Mit Initiativen wie „Musikland Niedersachsen“ sollen Musikpädagogen in Kindergärten und Grundschulen deshalb für eine angemessene musikalische Frühbildung qualifiziert werden.
Mohr hört am liebsten Klassik und auch mit anderen Formen hat er keine Berührungsängste. Nur im Jazz kennt er sich nicht gut aus – das hat er mit Adorno gemeinsam. JOSEPH VARSCHEN