piwik no script img

Archiv-Artikel

AMERICAN PIE Die Pässe des Posterboys

FOOTBALL Die Seattle Seahawks werden von ihren lautstarken Fans von Sieg zu Sieg gebrüllt. Längst sind sie ein heißer Superbowl-Anwärter

Einen Titel haben sie sich im äußersten Nordwesten der USA schon mal gesichert: den des lautesten Publikums in einem Freiluft-Stadion – und das weltweit. Die Experten vom Guiness-Buch der Rekorde registrierten am Montag in Seattle die neue Bestmarke von 137,6 auf dem Dezibel-Messer, als die heimischen Seahawks das Spiel gegen die New Orleans Saints mit dem obligatorischen Kick-Off eröffneten. Nachdem sie niedergebrüllt worden waren, wurden die Saints auch noch überrannt: 34:7 gewann Seattle das Spitzenspiel und besitzt nun mit elf Siegen bei nur einer Niederlage die beste Bilanz in der National Football League.

Vor allem zu Hause scheint Seattle unschlagbar zu sein. Die Lautstärke spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn das Publikum tobt immer dann besonders hingebungsvoll, wenn die gegnerische Angriffsreihe auf dem Platz steht, um deren Kommunikation zu erschweren. Auch deshalb haben die Seahawks in ihrer nun amtlich geprüften Lärmspielstätte seit 2011 nicht mehr verloren.

Das sind schlechte Nachrichten für die Konkurrenz: Denn mit dem Erfolg gegen die bis zu dieser deftigen Niederlage ebenfalls hoch eingeschätzten Saints haben die Seahawks nun das Heimrecht in allen Playoff-Runden so gut wie sicher. Ein Durchmarsch zur Super Bowl, die am 2. Februar in New York stattfinden wird, scheint unvermeidlich.

Seattle hat allerdings auch eine andere, weniger erstrebenswerte Bestmarke inne: Ebenfalls seit 2011 sind schon sieben Seahawks wegen Dopingverstößen gesperrt worden. Erst in der vergangenen Woche wurden die beiden Cornerbacks Walter Thurmond und Brandon Browner suspendiert. Browner war schon in der letzten Saison auffällig geworden. Acht Dopingsperren, so viele wie kein anderes NFL-Team, haben die Seahawks in den vergangenen drei Jahren gesammelt. Chefcoach Pete Carroll erklärt die Serie zu einer Häufung von Einzelfällen: „Wir versuchen hier hohe Standards durchzusetzen, aber es kann immer mal vorkommen, dass jemand einen Fehler macht.“

In Seattle gibt man sich gerne mit solch matten Erklärungen zufrieden. Die Stadt, die vor fünf Jahren ihr geliebtes Basketball-Team, die SuperSonics, verloren hat, und deren Baseball-Mannschaft, die Mariners, seit Ewigkeiten im Tabellenkeller dümpelt, genießt den Erfolg der Seahawks. Die scheinen tatsächlich auf dem besten Wege zu sein, endlich den ersten NFL-Titel nach Seattle zu holen. Der einzige Super-Bowl-Auftritt 2006 ging verloren, aber die aktuelle Mannschaft ist die ausgeglichenste, die sie je in Seattle hatten. Während die ähnlich erfolgreichen Denver Broncos eine mediokre Verteidigung mit rekordverdächtigen Angriffsleistungen ausgleichen müssen, glänzt bei den Seahawks zwar vor allem die Defense, aber die Offense steht dem nicht viel nach.

Posterboy des Erfolgs ist Russell Wilson. Der Quarterback, der am Freitag seinen 25. Geburtstag feierte, ist ein Unikum. Er beherrscht die kurzen, gefühlvollen Pässe ebenso gut wie die langen, kann aber auch schnell laufen, besitzt die für die Position nötige Übersicht, Intelligenz und Ruhe, sieht auch noch gut aus und füllt eloquent, abgeklärt und vollkommen skandalfrei seine Rolle als Gesicht des Vereins aus. Kurz: Wilson ist bereits in seinem zweiten Profi-Jahr die perfekte Besetzung für einen NFL-Quarterback, verdient aber nur 526.217 Dollar in dieser Saison und gab den Seahawks so die Möglichkeit, ein paar andere, gute Spieler nach Seattle zu locken. Zum Vergleich: Sein Gegenüber am Montag, Saints-Spielmacher Drew Brees, streicht 2013 mehr als 20 Millionen Dollars ein.

Wilson spielte so, als wolle er beweisen, dass Geld keine Touchdowns wirft. Ausgerechnet gegen den neun Jahre älteren Brees, sein großes Vorbild aus Jugendtagen, lieferte der Jungstar eine nahezu makellose Leistung ab, zeigte sich dann aber gewohnt bescheiden und verbeugte sich vor den Fans: „Das Publikum war großartig, sie haben den Dezibel-Rekord gebrochen.“ Wie laut es in Seattle werden kann, werden jene Teams erfahren müssen, die Seattle einen Platz in der Super Bowl streitig machen wollen. THOMAS WINKLER