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Archiv-Artikel

90 Minuten bei … Ikea Berlin-Tempelhof

„Sooooo, das Zweiiii-zu-null, alle Kassen stoppen!“

Mittagszeit im schwedischen Möbelteilekaufhaus. Die Luft steht. Durch dicke, nach Holz riechende Schwaden arbeiten sich vereinzelte Kunden und Pärchenklumpen mit ihren stählernen Wagen in Richtung Kasse. In Zeitlupe, vorbei an einem Podest, das mit einem grün bezogenen Klippansofa, Stofftierelchen im Trikot und überdimensionalen Sitzsäcken mit Fußballmuster (das klassische, nicht das Slipeinlagenmuster von von „Teamgeist plus“) zum hauseigenen WM-Studio umgemodelt wurde.

In einem der Bälle hängt Robert, um den Hals eine Trillerpfeife, und beobachtet das Spiel. Sein Job: Fußball gucken. Von 15 bis 22 Uhr. Fällt ein Tor, trötet er in seine Pfeife und die Kassen stoppen. Robert zieht eine Nummer, und die Kunden an der ausgelosten Kasse können ihren Einkauf gratis mitnehmen. „Das teuerste Tor war 750 Euro“, erzählt er, „da hat mein Kumpel gearbeitet.“

Die Einkäufer und Kassierer schenken alldem wenig Beachtung. Ebenso den über den Kassen angebrachten Flachbildschirmen, auf denen Costa Rica verzweifelt gegen Ecuador kämpft. Ab und an schlurft jemand zum TV und riskiert einen erschöpften Blick nach oben. Zu warm, zu egal.

Kissenberge, Klobürsten und Regalteile mit Männernamen fahren die Rollbänder entlang, Beträge werden in die Kasse gescannt, der ganze Kram zurück auf die Wägen geladen. Ikea wie immer. Kinder greinen, ein paar davon im Deutschland- oder Brasilientrikot. Sonnenverbrannte Haut über Hüfthosen. Ein Sommernachmittag im liebsten Einrichtungshaus der Deutschen. WM? Ach was! An das Grundrauschen namens Fußball hat man sich ja gewöhnt. Ganz normal?

Zumindest der Fahrer des hauseigenen Shuttleservices zeigt sich vom WM-Fieber angesteckt. Ein Türke mittleren Alters hatte eine Viertelstunde zuvor mit quietschenden Reifen vor der S-Bahn-Station Südkreuz gehalten, um die Einkaufswütigen einzusammeln. Er skandierte so etwas wie „Taxi! Transport! Wer will nach Istanbul! Bitte einsteigen!“ Ein paar Hiphop-Jungs mit Glitzerohrringen fühlten sich angesprochen und hakten nach: „Fährst du echt nach Istanbul?“ – „Nur, wenn ihr Weltmeister werdet.“ – „Klar, Mann, ich bin Brasilianer!“ Aus dem Autoradio quoll der Spielstand auf Türkisch. 1:0 für Ecuador.

Dem Gewinner an der Ikeakasse brachte der Schuss von Carlos Tenorio in der achten Minute 5,99 Euro ein, erzählt Ikeafußballbeobachter Robert, „schade, davor hatte jemand zwei richtig volle Wagen. Das hätte sich gelohnt!“

Robert ist FSJler bei den Marzahner Basketbären. Also trainieren, organisieren und an Schulen auf Talentsuche gehen. Basketball sei eher sein Sport, meint der 20-Jährige mit den riesigen weißen Turnschuhen, aber Fußball gucken sei schon okay.

Nach dem ersten Treffer passiert lange nichts. Hinter der Kasse essen Menschen Hot Dogs, Flip-Flops schnalzen, Hände kleben. 55. Minute, endlich Abwechslung. Ecuadors Delgado verhilft einer weiteren Kundin zu einem kostenlosen Einkauf. Wieder wird sportlicher Erfolg ganz unmittelbar in Bares umgewandelt.

Robert, Zeremonienmeister, schwingt sich auf und ergreift das Mikro: „Sooooo, das Zweiiii-zu-null, alle Kassen stoppen!“, zieht eine Nummer und eilt zu Kasse 23. „Was haben wir denn daaaaa … schon wieder 5,99 Euro?! Was kann man denn für 5,99 Euro bei Ikea kaufen? … Hmmh. Zwei Übertöpfe und ein bisschen Möbelöl.“

Die Gewinnerin ist ebenso unbeeindruckt wie die Umstehenden.

Die Kommerzialisierung der WM ist hier irgendwie auf die Spitze getrieben – wird aber sympathisch unaufgeregt betrieben. Doch sogar in den Hallen der ehrlichen Schweden herrschen teils Fifa-ähnliche Zustände: „Einmal“, erzählt Robert, „gab es einen Fastbestechungsversuch. Zwei Mädchen boten mir 50 Euro, wenn ich sie auslose. Aber: Ich kann ja gar nichts machen, erst muss ein Tor fallen.“

Die Kassen sirren: „Billy, Billly, Tromsö, Malmö.“ Das Spiel wird härter, die Kunden dampfen gelassen aus allen Poren.

In der Nachspielzeit gewinnt eine Bibliothekarin noch einmal: 91,43 Euro dank Kaviedes. Ecuador hat gewonnen. Sie ist milde überrascht, bleibt ansonsten ungerührt.

Allein Robert vor dem Bildschirm wundert sich über seine Beobachterin: „Komisch – ein Mädchen, das lieber Fußball guckt statt einzukaufen!“ KIRSTEN REINHARDT