■ 80. Tour de France: Die wilde Hatz auf Miguel Induráin
Gianni Bugno hatte sich schon längst gewünscht, er könnte nach China abhauen und dort vier Wochen verweilen, der ausgepumpte Claudio Chiappucci hatte seine verzweifelten Attacken enttäuscht aufgegeben, Maurizio Fondriest und Moreno Argentin ruhten sich auf ihren Lorbeeren in Form von Etappensiegen und Tagen im Rosa Trikot aus, da zeigte der vermeintlich Unüberwindliche, der unverwundbare Miguel Induráin doch noch menschliche Züge. Als auf der vorletzten Etappe des Giro d'Italia der Lette Pjotr Ugrumow, Zweitplazierter im Gesamtklassement, auf dem letzten steilen Anstieg sechs Kilometer vor dem Ziel wie besessen in die Pedale trat, konnte ihm der Spanier auf einmal nicht mehr folgen.
Doch auch im Augenblick der körperlichen Schwäche zeigte Induráin, was ihn, abgesehen von seinen physischen Vorzügen, von den meisten anderen Fahrern unterscheidet: der kluge Kopf. Weit entfernt davon, in Panik zu geraten, versuchte er keineswegs, dem Ausreißer auf Teufel komm raus zu folgen. Damit hätte er möglicherweise die letzten Kräfte verpulvert, einen totalen Einbruch riskiert und seinen Vorsprung von 1:34 Minuten in der Gesamtwertung eingebüßt. Ruhig fuhr er in seinem gewohnten Rhythmus weiter, überzeugt, daß es Ugrumow nicht schaffen würde, ihn von der Spitze zu verdrängen. „Ich hatte alles unter Kontrolle“, sagte er später, „es war zu wenig Strecke vor uns, um mir zu viel abzunehmen.“ Tatsächlich hatte der Lette im Ziel lediglich 36 Sekunden gewonnen und Induráin erntete für seine Kaltblütigkeit hohes Lob vom erfahrenen Argentin: „Er ist sehr, sehr, sehr intelligent.“
Dennoch nährte der leichte Einbruch des zweimaligen Tour-Gewinners die Hoffnungen der Konkurrenz für die heute beginnende 80. Frankreich-Rundfahrt. Der Kurs ist erheblich härter als in den Vorjahren, auf 3.720 Kilometern sind zwanzig schwere Pässe zu überwinden, fünf Kletteretappen der brutalsten Kategorie
stehen auf dem Programm. Irgendwann, so hofft die Rivalenschar, wird Induráin schon schlappmachen, wenn man ihm nur ordentlich zusetzt. „Angreifen, angreifen und wieder angreifen“, formuliert Chiappucci das Erfolgsrezept, doch diesmal will das kleine Energiebündel aus Italien die Arbeit, im Gegensatz zum Giro, wo er erschöpft und krank ins Ziel kam, nicht allein leisten. Er rechnet vor allem mit der Unterstützung der beiden Schweizer Tony Rominger und Alex Zülle, die bei der Spanien-Rundfahrt aufgetrumpft hatten und sich für die Tour viel vorgenommen haben. Eher abgeschrieben hat er Gianni Bugno, der einen veritablen Induráin-Komplex mit sich herumschleppt. „Wenn das so weitergeht“, sagte Weltmeister Bugno beim Giro, „wird er für mich immer unschlagbar bleiben.“
Das Kalkül der Verfolgermeute klingt simpel: Im Mannschaftszeitfahren der 4. Etappe hoffen sie, Induráins Banesto- Team trotz starker Zeitfahrer wie Armand de las Cuevas und Jean-François Bernard so weit abzuhängen, daß der Baske beim Einzelzeitfahren der 9. Etappe nicht die Spitze übernehmen kann. Dann geht es in die Alpen, wenige Tage später in die Pyrenäen. Begeistert über „eine solche Menge Gebirge“ war Chiappucci, der sich neuerdings gern „Il Diabolo“ nennt, schon, als er vom Anti-Induráin-Verlauf der Tour 1993 erfuhr. Der Italiener ist überzeugt, daß er im stoischen Gesicht des Spaniers, der auch kurz vor dem Zusammenbruch noch wirkt wie ein entspannter Sonntagsausflügler, ablesen kann, wenn dieser in Schwierigkeiten ist. Dann wird sich die Konkurrenz wie ein Rudel Wölfe auf ihn stürzen und versuchen, ihm so viele Minuten abzunehmen, daß er den Rückstand beim 48-km- Zeitfahren der vorletzten Etappe nicht mehr gutmachen kann.
Zwei alte Bekannte werden bei der wilden Hatz auf Miguel Induráin fehlen. Der dreifache Toursieger Greg LeMond und der 37jährige Ire Sean Kelly wurden von ihren Teams nicht nominiert. Matti Lieske
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