30 Jahre Deutsche Einheit : Herzlichen Glückwunsch!
Arme Opfer-Ossis? Geht's noch? Die deutsche Wiedervereinigung war ein historischer Glücksmoment, mutig ergriffen, kompetent gemanagt. Eine Widerrede.
Von UDO KNAPP
Dreißig Jahre ist die Wiedervereinigung der deutschen Staaten erst her, und schon geraten die Tatsachen der Wende aus dem Blick. Das ist jedenfalls der Eindruck, den man nach den Feierlichkeiten des vergangenen Wochenendes gewinnen muss. Es war ein welthistorischer, mutig genutzter Glücksmoment, der die DDRler aus der SED-Diktatur befreite. Daraus werden in der politischen Öffentlichkeit nun um ihre Identität und ihre Lebensleistung gebrachte Ossis. Es war die gelungene Wiederherstellung der nationalen Souveränität einer geeinten Bundesrepublik in einem demokratischen Rechtsstaat auf der Basis des Grundgesetzes für alle Bundesbürger in Ost und West innerhalb nur eines Jahres. Daraus wird die Sturzgeburt einer sich ermächtigenden, ungeliebten Bundesrepublik.
Geht’s noch?
Die Wiedervereinigung vom Oktober 1990 ist historisch betrachtet die glücklich nachgeholte demokratische Reifeprüfung der Deutschen nach den Verbrechen, die sie zuvor der Welt angetan hatten. Das unkomplizierte Verhalten der Bürger in Ost und West in den Jahren der Wende, das Rübermachen von Tausenden von Ost nach West, einige friedliche Demonstrationen in Leipzig und Berlin auf der einen Seite. Auf der anderen hat der politische Mut von Kohl, der kompetente Pragmatismus von Schäuble, Krause, de Maizière und ihrem Vertragskabinett jenseits von Bundestag und Parteien die Einheit hergestellt und irreversible Fakten geschaffen, bevor alle richtig Luft holen konnten.
Die kaum beachteten Helden der Wiedervereinigung
Die DDR wurde in jeder Hinsicht kompetent abgewickelt. Parallel dazu wurden die im Westen bewährten politischen und gesellschaftlichen Strukturen in die fünf neuen Bundesländer übertragen und dort rechtsfest eingerichtet. Tausende Beamte und Angestellte, Leistungsträger aller öffentlichen Institutionen aller Ebenen, wurden innerhalb von Wochen mit einer Zulage zu ihren Gehältern in die Neuen Länder versetzt. Sie waren es, die mit großem Einsatz und in atemberaubendem Tempo von Rostock bis nach Suhl, von den Ministerien bis zu den Rathäusern und Kommunen, von den Krankenhäusern bis zur Müllentsorgung, von Schulen bis zu den Universitäten, die im Westen bewährten und erfolgreichen Strukturen herstellten. Diese Beamten sind die bisher kaum beachteten Helden der Wiedervereinigung.
Sie haben die Wende gemanagt und damit gemacht.
Die Sozialunion, die Treuhand, die Auflösung und Integration der Volksarmee in die Bundeswehr, der Abzug von hunderttausenden russischer Soldaten in nur drei Jahren und die Transferunion waren Eckpfeiler der erfolgreichen Wiedervereinigung.
Soziale Absicherung für alle Ex-DDR-Bürger
Mit der Sozialunion wurde allen Ex-DDR-Bürgern der Zugang zu allen sozialen Sicherungssystemen der Bundesrepublik gewährt, obwohl sie keine eigenen Beiträge in diese Sicherungssysteme aus der DDR-Zeit mitgebracht hatten. Die Treuhand wickelte in enger Kooperation mit der Unternehmerschaft im Westen die weitgehend bankrotte DDR-Industrie ab. Sie schuf so die Voraussetzungen für einen industriellen Neuanfang in den Neuen Ländern, der bis heute anhält. Die in diesem Prozess freigesetzten Arbeiter waren oder sind bis heute über Arbeitslosengeld, Frühverrentung, Hartz IV und Umschulungen abgesichert, jedenfalls besser gestellt als jemals zu DDR-Zeiten.
Es ist keine Frage, dass es auf diesem Weg auch große Härten gegeben hat, aber hätte die Bundesrepublik die nicht marktfähigen Kombinate der DDR mit Steuergeldern weiterführen sollen?
Die Auflösung der Volksarmee und die Integration eines großen Teils ihres politisch unbelasteten Offizierskorps in die Bundeswehr stellte die Garantie des staatlichen Gewaltmonopols der Bundesrepublik nach außen und die Erfüllung der Bündnispflichten in der Nato sicher.
Logistische Meisterleistung und friedensichernde Maßnahme
Der Komplettabzug der sowjetrussischen Soldaten und ihrer Waffen war eine logistische Meisterleistung, aber noch wichtiger: Sie war eine für ganz Europa friedensichernde Maßnahme, deren Bedeutung bis heute beschwiegen wird. Schließlich wurden und werden Billionen Euro aus den öffentlichen Haushalten des Westens von den Bundesbürgern bis heute weitgehend klaglos durch den Solidaritätszuschlag von West nach Ost mit hoher strukturbildender Wirkung transferiert. Dazu kamen und kommen Millionen aus den EU-Strukturfonds.
Das gerade in den letzten Tagen wieder parteiübergreifend orchestrierte Gerede von der friedlichen Revolution der DDR-Bürger und in der Folge deren angeblich ungefragte Überwältigung ist als politisch durchsichtige Anbiederung zu qualifizieren. Tatsache ist: Die Wiedervereinigung war keine Revolution, sie war der von der Bundesregierung klug organisierte und erfolgreich durchgeführte Anschluss der in jeder Hinsicht bankrotten DDR an die Bundesrepublik. Diese Feststellung schmälert in keinster Weise den Mut kleiner Gruppen und vieler Einzelner, die sich mit hohem persönlichen Einsatz der SED-Diktatur entgegengestellt haben. Aber politischen Einfluss auf die Mehrheit der DDR-Bürger und den Prozess der Wiedervereinigung hatten sie nicht; weder vor der Wende noch danach.
Reiner Kunzes Mauer-Gedicht vom 3. Oktober 1990 legt allerdings ein ganz anderes deutsches Defizit offen, das in der Diskussion um die Einheit bis heute nicht zur Kenntnis genommen und schon gar nicht diskutiert wird. Kunzes letzter Vers – „nun stehen wir entblößt jeder Entschuldigung“ – stellt nüchtern fest, dass die Bürger in der DDR sich in ihrer großen Mehrheit mit der SED-Diktatur nicht nur arrangiert hatten, sondern sie, wenn auch gelegentlich murrend, über 40 Jahre lang aktiv mitgetragen haben.
Die deutsche Schuld: aktive Akzeptanz zweier Diktaturen
Die Nazi-Diktatur und im unmittelbaren Anschluss daran die SED-Diktatur: Die aktive Akzeptanz zweier Diktaturen auf dem Gebiet der DDR wird von Kunze als immer noch nicht akzeptierte deutsche Schuld gesehen. Das beunruhigt heute noch genauso wie 1990.
Die hohe Zustimmung zur AfD und anderen rechtsradikalen Organisationen in den Neuen Ländern, der offene Fremdenhass und der alltägliche Antisemitismus, die andauernde hohe Anerkennung der SED-Nachfolgepartei PDS, und nicht zuletzt die lebendige Putin- und Russenliebe, belegen, wie tief die Faszination autoritärer, freiheitsfeindlicher, demokratiefeindlicher Weltsichten bei vielen Ex-DDRlern immer noch verankert ist: wie im übrigen auch bei vielen Ex-Bürgern der alten Bundesrepublik.
Die Demokratisierungsprozesse in der neuen, erweiterteten Bundesrepublik laufen, aber es scheinen Prozesse zu sein, die noch einige Generationen brauchen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg wäre, wenn alle unsere politischen Parteien und Eliten aufhören würden, wider besseres Wissen, das Selbstmitleid einiger Ex-DDRler durch larmoyante und verlogene Selbstkritik an der Einheitspolitik zu befördern. Besser wäre es, die Bundesbürger in den Neuen Ländern und übrigens alle Bundesbürger offen dazu zu beglückwünschen, dass sie so einfach, glücklich und ohne große eigene Anstrengungen zu freien Bürgern der großen demokratischen Bundesrepublik in einem sich einigenden, zusammenwachsenden Europa geworden sind.
UDO KNAPP ist Politologe. Er war in den 90ern stellvertretender Landrat von Rügen und arbeitete danach für den Aufbau Ost im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.