24 stunden spreebogen, folge 21 : Von 20 bis 21 Uhr
Schade. Keine aufgeregten Politreporter und keine Kamerateams weit und breit. 20 Uhr. Das ist ja jetzt die Zeit, in der die „Tagesschau“ gern live zu einem Mitarbeiter mit Weltwichtigkeitsblick im Gesicht und Mikrofon in der Hand umschaltet, der dann ein paar Sätze zur Einschätzung der Lage spricht – mit dem Kanzleramt oder dem Reichstag als bedeutungsschwangerer Kulisse. Aber heute scheint kein Bedarf dafür zu sein. Weder auf dem Platz vorm Reichtag noch auf der Brücke über die Spree, von der aus man das Kanzleramt malerisch im Hintergrund platzieren kann, sind Kameras aufgebaut. Mal sehen, es bleibt ja – in zwei Wochen – noch die „Tagesthemen“-Zeit.
Dafür sind von dieser Stunde viele gemischte Eindrücke zu berichten. Die Deutschlandflaggen auf dem Reichstag scheinen geradezu strammzustehen – das macht der beinahe winterliche Wind, der heute den Spreebogen durchweht. Das hübsche Reichstagspräsidentenpalais ist hell erleuchtet, der Platz zum Reichstag hin abgesperrt, im Umfeld Polizei und viele schwarze Limousinen. Irgendein Empfang, kleines Staatstheater – von dem man, wenn man daran vorbeigeht, immer nur wartende Einsatzkräfte und Reporter mitkriegt.
Auch sonst wird viel gewartet. Vorm Paul-Löbe-Haus sitzen ein Dutzend Fahrer in ihren Dienstlimousinen und halten sich bereit für Abgeordnete, die Feierabend machen oder sich noch zu Abendterminen bringen lassen wollen. Die Fahrer verfolgen verschiedene Strategien, die Zeit totzuschlagen. Zwei essen Brote, einer macht Abrechnungen, einer hat sich an den Wagen eines Kollegen gestellt und unterhält sich durch das heruntergefahrene Fenster hindurch mit ihm, einer räumt den Kofferraum ein, die meisten beschäftigen sich mit ihren Handys, manche starren einfach vor sich hin, und die einzige Fahrerin hört Radio. Alle haben sie die Innenraumbeleuchtung eingestellt, und so kann man sich beim Vorübergehen beeindrucken lassen von der technischen Ausstattung so eines Dienstwagens. Das zurückhaltende Glimmen der von innen beleuchteten Regler und Knöpfe wirkt souverän, ein großer Bildschirm offenbar für den Navigationscomputer ist Standard. Eine eigene Untersuchung wert wären die Schlipse der Fahrer. Ordentlich und sauber müssen sie aussehen, aber auf keinen Fall zu ambitioniert; die Schlipse der Abgeordneten müssen immer noch eine Spur dominanter wirken können. Die meisten Fahrer bekommen diese Gratwanderung prima hin. Nur eine allzu prollig bunt gepunktete Krawatte könnte man an diesem Abend beanstanden, wenn man es denn wollte – als Spaziergänger freut man sich ja eher über solche kleinen Ausrutscher bei den feinen Unterschieden.
Dann die schönste Szene dieser Stunde. Ein junger Mann – dunkle Hautfarbe, schicker Anzug, Singsang-Akzent – spricht mich an. „Ich weiß nicht, wo ich hier gelandet bin. Das ist doch eine Uni, oder?“ Stimmt ja. Die Bundestagsneubauten haben tatsächlich etwas von einer etwas teurer ausgeführten Reformuni. Aber schon interessant, dass man innerlich doch unmittelbar etwas empört ist, sein Regierungsviertel so verkannt zu sehen. Dann fragt der Mann nach dem Weg zur Friedrichstraße. Während ich ihn zeige, fällt mir auf: Am Hauptbahnhof sind bereits Weihnachtssterne angebracht. Aber sie sind noch nicht beleuchtet. DIRK KNIPPHALS
Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. – Von 21 bis 22 Uhr: am 17. 11.