1993 war das Jahr des Streits um die Beteiligung der Bundeswehr an Out-of-area-Einsätzen der UNO. Weitgehend reduziert auf die Blauhelm-Debatte, wurde dabei um die Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik gestritten. Die Bonner Regierung errang einen Punktsieg Von Michael Sontheimer

Out of Grundgesetz

Am 30. Januar 1991 verkündete Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung: „Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen, es kann sich künftig offen zur Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten.“

Am 14. Oktober 1993, knapp zehn Monate später, wurde der 26 Jahre alte Sanitätsfeldwebel Alexander Arndt aus Hildesheim in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh erschossen.

Die Konfrontation dieser beiden Ereignisse will nicht suggerieren, daß Helmut Kohl und seine Regierung zielgerichtet darauf hingearbeitet hätten, möglichst bald deutsche Soldaten als Leichen heimholen zu können. Sie demonstriert jedoch, wie schnell es der Bundesregierung gelungen ist, die angekündigte Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik Wirklichkeit werden zu lassen.

Im Artikel 87 des Grundgesetzes ist der Auftrag der Bundeswehr zur Landesverteidigung festgeschrieben, im Artikel 26 das Verbot eines Angriffskrieges formuliert. Out-of-area-Einsätze – ob nun mit blauem oder grünen Helm – hatten weder die Väter und die eine Mutter des Grundgesetzes noch die Autoren der Notstandsgesetze im Blick. Diese Einsätze können deshalb, je nach politischem Standort, entweder als Verfassungsbruch oder aber als Vorstoß in eine noch zu schließende Lücke des Grundgesetzes interpretiert werden. In jedem Fall sind sie jedoch out of Grundgesetz.

Die Bundesregierung entschied sich dafür, zunächst Tatsachen zu schaffen – und anschließend das Grundgesetz Verfassung diesen Tatsachen anzupassen. Diese Taktik brachte auch Befürworter einer bewaffneten Außenpolitik auf. So klagte etwa Rolf Wenzel, Vorsitzender des Bundeswehrverbandes, der den Somalia-Einsatz an sich unterstützte: „Im Moment halte ich den Einsatz für nicht verfassungskonform.“ Wenzel nannte das Afrika-Korps der Bundeswehr eine „Mogelpackung“.

Andere Kritiker warfen der Bundesregierung vor, nach der altbekannten „Salami-Taktik“ vorzugehen: Das zum Teil desinteressierte, zum Teil desinformierte Publikum wurde schleichend an immer höhere Dosen deutscher Militärpräsenz außerhalb des bisherigen Einsatzgebietes der Bundeswehr gewöhnt.

Am Anfang stand noch gar nicht die Bundeswehr, sondern der Bundesgrenzschutz (BGS). Bei dem erfolgreichen UN-Einsatz für den Friedensprozeß im afrikanischen Namibia waren erstmals BGS-Männer mit den hellblauen UN-Mützen dabei. Während des Golfkrieges im Jahr 1991 schickte die Bundesmarine Minensuchboote in den Persischen Golf, und deutsche Piloten steuerten über der türkisch-irakischen Grenze Awacs-Aufklärungsflugzeuge.

Als nächstes entsandte die Marine ihre Zerstörer in die Adria, um das Embargo gegen die Bürgerkriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien zu überwachen. Waren dies kleine, wenig publizitätsträchtige Einsätze, so handelte es sich bei den deutschen Sanitätssoldaten, die nach Phnom Penh geschickt wurden, erstmals um ein Kontingent, das diesen Namen verdiente. 140 Mann (ein paar wenige Frauen inklusive), bauten ein Krankenhaus auf, in dem nicht nur UN-Mitarbeiter, sondern auch viele Kambodschaner Hilfe fanden.

Die Bundesregierung ergriff unermüdlich die Initiative, die oppositionelle SPD hatte dem wenig entgegenzusetzen. Gespalten, ob sie nur friedensichernden oder auch friedenschaffenden Blauhelm-Einsätzen zustimmen sollte und die Koalitionsfähigkeit mit CDU und FDP in manchem Hinterkopf, drohte die SPD lange damit, daß Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anzurufen, tat es dann aber erst viel zu spät.

Am 8. April 1993, dem Gründonnerstag um neun Uhr abends, verkündete der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts seine Ablehnung der Eilanträge der SPD und der FDP zu den Awacs- Einsätzen über der Adriaküste. Obgleich sie mit fünf gegen drei Stimmen nur eine knappe Entscheidung trafen, besaß die Mehrzahl der höchsten deutschen Richter wie gewohnt ein feines Gespür für das politisch Opportune. „Der Vertrauensverlust der Bundesrepublik Deutschland bei den Nato- Partnern und bei allen europäischen Nachbarn wäre unvermeidlich“, hieß es in der Begründung, „der dadurch entstehende Schaden [sei] nicht wiedergutzumachen.“ Bei dem Somalia-Einsatz spielte Klaus Kinkels unbändiger Drang, nicht mehr länger als König Ohnetruppe am Katzentisch der Großmächte zu sitzen, sondern einen Sessel im UN-Sicherheitsrat zu okkupieren, eine entscheidende Rolle.

Das Argument der humanitären Hilfe war zynisch vorgeschoben, hatte sich doch die Bundesregierung noch im Frühjahr 1991, als in Somalia der Hungertod wütete, standhaft geweigert, Hilfsflüge zu finanzieren.

UN-Generalsekretär Butros Ghali ließ den deutschen Auftrag für die innenpolitische Auseinandersetzung der Bundesregierung maßschneidern: lediglich „friedenserhaltende Aktivitäten“ in „rebellenfreien Gebieten“ wurden den deutschen Soldaten zugedacht. Ende Juni lehnte das Bundesverfassungsgericht den Eilantrag der SPD, der die Afrika-Expedition hätte stoppen können, ab, verlangte allerdings, daß der Bundestag mehrheitlich zustimmen müßte – was dann auch umgehend geschah.

Stichwort Mogelpackung: Zunächst wurden die Kosten der Somalia-Aktion auf mindestens 186 Millionen Mark geschätzt, inzwischen werden gute 300 Millionen Mark veranschlagt. Ärgerlicher noch ist die Bewußtlosigkeit, mit der der Paradigmenwechsel der deutschen Außenpolitik vollzogen wurde. Das Niveau der Debatte über Sinn und Unsinn von Interventionen in der Dritten Welt erreichte immer wieder gespenstische Niveaulosigkeit. Volker Rühe beispielsweise forderte gleich forsch dazu auf, den somalischen General Aidid „entschieden zu bekämpfen“.

Die Bundesregierung hat kein Interesse an einer Debatte, sie will Tatsachen schaffen. Karl Lamers, der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Faktion, bekannte ganz offen: „Von der Wiederbewaffnung bis hin zur Nachrüstung gab es für unsere Positionen nie eine Mehrheit. Trotzdem haben wir all diese Auseinandersetzungen erfolgreich bestanden und bei den Wahlen obsiegt.“

Obwohl es die Bundesregierung geschafft hat, eine Politik gegen die Mehrheit der Gesellschaft zu machen, spielt letztere noch nicht richtig mit. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer, die sich im Jahr des Golfkrieges mit einem Schlag verdoppelt hatte, lag vom Januar bis Oktober dieses Jahres mit 106.446 nur geringfügig unter der des Vorjahres. Die Heimatfront wankt.