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Archiv-Artikel

16 mm diederichsen Hätte ich einen Hammer

Am 10. Februar diskutieren im Auftrag der deutschen Filmakademie unter der Leitung von H. C. Blumenberg, Senta Berger, Doris Dörrie, Til Schweiger, Leander Haußmann und andere Zuständige unter der Überschrift „Hätte ich das Kino!“ die im Untertitel der Veranstaltung gestellte Frage: „Wo bleibt die Leidenschaft im deutschen Film?“ Anlass für diese Frage ist das Manifest des kämpferischen jungen Sozialdemokraten Carlo Mierendorff von 1920, „Hätte ich das Kino!“, in dem er unter anderem gegen „geechtete“, wir würden sagen: „authentizistische“, Filme agitiert und vom Kino fordert, die Massen politisch angemessen zu beeinflussen. Blumenberg findet, dass das Manifest leidenschaftlich geschrieben sei. Daher müsse man über Leidenschaft diskutieren. Nicht über Authentizismus. Nicht über die Frage, warum der größere Teil der Diskutierenden mit Populismus die Massen politisch unangemessen beeinflusst. Sondern über die verfickte biopolitische Sekundärtugend Leidenschaft.

Dabei will heute niemand mehr das Kino haben. Interessierte können sich das Teil gegen einen symbolischen Preis am Potsdamer Platz abholen. Es ist das große Ding, wo sonst stadtbekannte Trottel wie die Blue Men Group ihr Unwesen treiben. Statt des Kinos wollen heute alle die Musik. (Die im Übrigen auch nicht viel mehr als symbolische Summen einbringt).

Neben den schon allgemein als überrepräsentiert aufgefallenen Lebensbilanzen von Rock-Typen, zähle ich fast genauso viele Filme, die sich um Bildende Künstler kümmern. Fast alle im Modus des Porträts. Das Kino will sich nicht nur nicht mehr um die Aufgaben des Kinos kümmern und stattdessen andere Künste dokumentieren, die doch alle über eigene Mittel verfügen, sich zu präsentieren. Es will über diese anderen Künste nicht einmal mehr Kino-Erzählungen konstruieren, sondern zieht es vor, sich schlicht an Lebensläufe zu halten. Die so genannten Bio-Pix, Pest der letzten Jahre, waren ein Vorwand für ein Erzählen ohne Charaktere. Man gab einfach einem Schauspieler den Namen eines Prominenten und ließ ihn die Dinge nachstellen, die der Prominente laut Bio getan hat. Die Bio-Dox verschärfen dieses Problem. Sie sind ein Vorwand fürs Erzählen ohne Charaktere und Darsteller. Sie lassen Prominente tun, was die sowieso tun.

Ich bin natürlich ungerecht. Scorsese wird sich schon was Pfiffiges mit den immer für eine Überraschung guten Stones ausgedacht haben. Natürlich bin ich auch viel zu anspruchsvoll, was Erzählungen betrifft. Das liegt daran, dass ich, wie viele meiner Zeitgenossen, die Kunst der Narration in bewegten Bildern nicht mehr im Kino suche. Dieses hat andere Aufgaben, die es in 90 Minuten besser lösen kann. Was eine gefilmte Erzählung leisten kann, zeigen mir 30 Stunden „Deadwood“, 80 Stunden „Sopranos“ oder 50 Stunden „The Wire“ und viele andere, meist von HBO produzierte TV-Serien; die aber kein Mensch beiläufig wie ein TV-Programm konsumiert. Stattdessen berauscht man sich in tagelangen Sitzungen mit DVD-Boxen, die an Lektüreekstasen mit großen russischen Romanen aus dem 19. Jahrhundert gemahnen.

Hier wird die Kunst des Erzählens gerade neu erfunden. Sie ist noch lange nicht fertig. Hätte ich in dieser Situation das kurze, kompakte Kino, würde ich von ihm symbolistische Gedichte und anarchistische Aphorismen verlangen, Konvulsionen und Aggressionen, Essays und Impromptus. Wenn HBO heute Flaubert und Tolstoi hervorbringt, will ich vom Kino einen voll entwickelten Baudelaire.DIEDRICH DIEDERICHSEN