125 Jahre Merz-Kunst: Berühmt im Verborgenen
Der hannoversche Künstler Kurt Schwitters ist ein Star der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Ein Star des Stadtmarketings ist Schwitters aber nicht.
HANNOVER taz | Die Tourismusinformation am hannoverschen Hauptbahnhof liegt direkt hinter einer Bushaltestelle, deshalb spielen dort Fragen nach dem öffentlichen Nahverkehr eine große Rolle. Auch um Eintrittskarten geht es oft und, wenn man sich die Vitrinen mit Hannover-Merchandising anschaut, um den Fußballverein Hannover 96.
Für Hannover-Fans gibt es außerdem eine Badeente in Schützenkluft sowie Hannover-Wandteller, -Spardosen und -Regenschirme, ferner eine Miniatur des Reiterstandbilds von Ernst August von Hannover und eine Miniatur einer Figur von Niki de Saint Phalle. Es ist alles da, was Hannover ausmacht. Nur einer fehlt: Kurt Schwitters.
Kurt Schwitters ist der „wohl wichtigste Hannoveraner Künstler des 20. Jahrhunderts“, so formulierte es der Direktor des Sprengel-Museums Ulrich Krempel anlässlich der Gründung der Kurt und Ernst Schwitters-Stiftung im Jahr 2001. Schwitters veröffentlichte in den 1920er Jahren Texte wie die Ursonate und das Gedicht „An Anna Blume“, er errichtete den Merzbau und schuf Collagen aus bis dahin kunstfernen Alltagsmaterialien und Müll. Er war bildender Künstler, Schriftsteller, Typograf, Werbegrafiker und Performer zugleich. Heute, am 20. Juni, ist sein 125. Geburtstag.
Keine Broschüre
In der Tourismusinformation gibt es keine Broschüre zu Schwitters, aber die Mitarbeiter können trotzdem weiterhelfen. Wo man also hingehen solle, wenn man Schwitters in Hannover begegnen möchte? Ins Sprengel-Museum, sagen die Mitarbeiter, dort hängen seine Werke in der Dauerausstellung, außerdem gibt es einen Nachbau des Merzbaus und das Kurt Schwitters Archiv, letzteres aber nur für Studierende und Wissenschaftler und nur nach Voranmeldung.
Eine weitere Möglichkeit wäre die Gedenktafel mit dem Gedicht „Hannover“, eingelassen im Boden der Fußgängerzone, in der Nähe der Marktkirche. Und Schwitters Grab auf dem Stadtfriedhof Engesohde, in Gehweite übrigens zur Adresse Waldhausenstraße 5, wo Schwitters lebte und arbeitete, ehe er 1937 vor den Nazis zunächst nach Norwegen flüchtete.
Wallfahrtsort für acht Wochen
Da, wo in den 1920er Jahren Schwitters Atelier samt Merzbau war, ist heute der Garten eines Wohnhauses. Anfang des Jahres hatte der Künstler Thomas Hirschhorn die „Kurt Schwitters Plattform“ in diesen Garten gebaut, eine Holzkonstruktion, auf der ein Sofa stand und ein Regal mit Kurt-Schwitters-Fachliteratur. Es war ein ironischer, trashiger Wallfahrtsort, dessen Errichtung einen Vorlauf von zehn Jahren brauchte. Danach erlaubten die Anlieger und Grundbesitzer eine Öffnungszeit von acht Wochen.
Einfacher tut sich der Schwitters-Fan mit der Grabstätte am Stadtfriedhof Engesohde: Das Grab existiert durchgängig seit 1970. Gestorben ist Schwitters allerdings schon 1948, und zwar im englischen Exil. Die Überführung war Teil einer allmählichen Annäherung der Stadt an einen Künstler, der seine Lautgedichte nicht nur schrieb, sondern auch selbst zum Besten gab – und von vielen seiner Zeitgenossen für verrückt gehalten wurde.
Auf dem Stadtfriedhof liegt Schwitters neben dem Kommerzienrat Friedrich Eduard Behrens und dem Generaldirektor Georg Ebeling. Anders als seine Nachbarn hat Schwitters keine klassizistischen Muskelmänner oder Tempelsäulen auf seinem Grab, sondern die Nachbildung einer Herbstzeitlosen. Es ist mit Abstand das schlichteste Grab in dieser Ecke des Friedhofs.
Den Merz-Begriff erfindet Kurt Schwitters im Winter 1918/19. Er wird zur Grundlage und zum Markenzeichen seiner Kunst.
Merz bedeutet, alle erdenklichen Materialien, auch Müll, für künstlerische Zwecke gleichberechtigt zu nutzen. Entstanden sind so die für Schwitters typischen Collagen, bei denen beispielsweise Fahrkarten, Butterbrotpapier und Watte zum Einsatz kommen.
Erreicht werden soll dadurch eine Durchdringung von Kunst und Leben im Sinne eines "Merzgesamtweltbildes".
Im Fall des Merzbaus schuf Schwitters eine architektonische Plastik über mehrere Räume seines Wohnhauses hinweg. Die Plastik fasste die Malerei, Assemblage, Skulptur und Architektur zu einer Einheit zusammen und wurde bei einem Bombenangriff zerstört.
Das Wortfragment "Merz" fand Schwitters in einer Anzeige der Commerzbank, wo er es ausschnitt und für eine Assemblage verwendete.
Das Grab passt zu Schwitters, der aus einer bürgerlichen Familie kam und auch zu seinen schrägsten Zeiten die Kleidung und den Habitus eines Kleinbürgers an den Tag legte. Weil er zudem keine politisch orientierte Kunst machen wollte, wurde er nicht in den Kreis der Berliner Dadaisten aufgenommen. Also gründete Schwitters seine eigene Ein-Mann-Kunstbewegung in Hannover.
Individualist im Gewand des Kleinbürgers
Der Individualist im Gewand des Kleinbürgers, das funktionierte gut in Hannover. So gut, dass Schwitters seiner Heimatstadt ein Gedicht widmete. Darin geht es um eine dadaistische Übersetzung des Wortes „Hannover“. Schwitters Ergebnis lautet: „Vorwärts nach weit“.
Immerhin: Das Gedicht hat es geschafft auf eine Tafel, die unweit des Ballhofs in den Boden der Fußgängerzone eingelassen ist. Die Tafel ist neben dem Grab das einzige Schwitters-Zeugnis im öffentlichen Raum. Kurt Schwitters hat die Stadt Hannover sicherlich wegen ihrer Bescheidenheit geliebt. Nun liebt die Stadt bescheiden zurück.
Allerdings gibt es ja noch das Sprengel-Museum, jene Einrichtung, die den Mitarbeitern in der Touristeninformation als erstes zu Kurt Schwitters eingefallen ist. Wir erinnern uns: die dortige Dauerausstellung. Das dortige Archiv. Die dortige Stiftung. Dort müssen Schwitters-Fans gut aufgehoben sein. Allein die Adresse schon: Kurt-Schwitters-Platz 1.
Im Kurt Schwitters Archiv sitzt Isabel Schulz an einem funktionalen Konferenztisch und sagt: „Wir sind ein Forschungs- und Kompetenzzentrum. Wir wollen das Erbe des vertriebenen Künstlers zurückholen.“
Schulz ist promovierte Kunsthistorikerin und Geschäftsführerin der Stiftung und des Archivs. Der Arbeitsraum des Archivs besteht – neben dem Konferenztisch – aus drei, vier sehr aufgeräumten Arbeitsplätzen mit Computerbildschirmen. An den Wänden stehen graue Metallschränke. Darin befinden sich nicht die Werke selbst, sondern die Dokumente, die Kurt Schwitters Sohn angelegt hat, um die Werke des Vaters zu erfassen.
Es sind mit Hand beschriftete Kartons, pro Werk einer, versehen mit Abbildungen des Werkes und Angaben zu seiner Entstehung und seinem Verbleib. Die Dokumente sind die Grundlage für die erste Aufgabe des Schwitters-Archivs: ein Verzeichnis der Werke zu erstellen.
Isabel Schulz steht in Kontakt mit Museen in Europa, den USA und Südamerika, die Schwitters ausstellen möchten und um Auskünfte, Leihgaben oder ganze Ausstellungen bitten. Außerdem arbeitet sie zusammen mit der Universität Wuppertal; derzeit geht es darum, eine vollständige und kommentierte Ausgabe des schriftlichen Werks von Kurt Schwitters zu verwirklichen. „Wir wollen nicht nur die Texte an sich, sondern auch die Materialität der Texte zeigen“, sagt Schulz. „Schwitters war gattungssprengend. Das wird als wichtigstes Merkmal herausgestellt.“
Hannover feiert antizyklisch
Zum 125. Geburtstag wird es keine eigene Schwitters-Ausstellung im Sprengel-Museum geben, dafür gab es im vergangenen Jahr eine und im kommenden Jahr wieder, dann in Kooperation mit der Tate Britain in London. Das Sprengel-Museum sagt, man feiere die Schwitters-Geburtstage eben gerne antizyklisch. Isabel Schulz sagt: „Schwitters ist kein Künstler, der busseweise Leute anlockt. Sein Werk bleibt in gewisser Weise unpopulär. Er ist keine Identifikationsfigur wie zum Beispiel Paula Modersohn.“
Immerhin schafft es eine Darbietung von Kurt Schwitters „Ursonate“ auf Youtube auf gut 43.000 Zugriffe – als reine Audioaufnahme wohlgemerkt, ohne visuelle Ebene. Anna Blume greift die Hip-Hop-Band Freundeskreis in ihrem Song „A-N-N-A“ auf, der ein Hit wurde. Und in Nordrhein-Westfalen kommt man auf die Idee, einen Recycling-Designpreis ins Leben zu rufen: Die Idee dahinter habe man von Kurt Schwitters, schreiben die Initiatoren.
Hannover wirbt dagegen mit bunten, runden Figuren im Stadtbild, genannt Nanas und geschaffen von der Künstlerin Niki de Saint Phalle. Warum schaffen es die Nanas in die Broschüren mit den touristischen Highlights und nicht Kurt Schwitters „Kathedrale des erotischen Elends“?
„Niki des Sant Phalles Popart ist kommerziell und populär, sie lässt sich gut vermarkten“, sagt Christian Nolte, Geschäftsführer der Hannover Marketing und Tourismus GmbH. „Typographie, Gestaltungstechnik und Collage sind wesentlich komplexere Ausdrucksformen, die sich dem vorbeischlendernden Betrachter nicht sofort erschließen“, sagt er. „Da ist es nicht so leicht.“
Hannover heftet sich die Avantgarde halt nicht ans Revers und gibt sich nach außen hin lieber kleinbürgerlich. Kurt Schwitters hätte das vermutlich gut gefunden. Und in seinem Notizbuch notiert: „Alles stimmt, aber auch das Gegenteil.“
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