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Archiv-Artikel

100.000 GLOBALISIERUNGSKRITIKER REICHEN NICHT GEGEN DIE AGENDA 2010 Das Protestpotenzial ist größer

Gestern Scheitern, heute Erfolg. So unterschiedlich kann die Interpretation eines nahezu identischen Ereignisses ausfallen. Am 24. Mai brachte der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB knapp 100.000 Leute auf die Straße, um gegen die rot-grüne Agenda 2010 zu protestieren. Das Urteil der Medien: schwache Vorstellung. Gestern nun kamen auf Geheiß der Globalisierungskritiker und einiger Branchengewerkschaften wiederum 100.000 Demonstranten zusammen. Jetzt sagt das Tribunal der Meinungsmacher: so viele, erstaunlich! Es scheint immer darauf anzukommen, wer auftritt – und vor allem mit welchem Gestus.

Zwei Faktoren sind entscheidend: der Leumund der Organisatoren und die mit dem Ereignis verknüpften Erwartungen. In beidem sah der DGB nicht gut aus. Bei vielen Leuten gelten die Gewerkschaften als unsexy, ihre Ziele als rückwärts gewandt. Für die Mai-Demonstrationen hatte die Gewerkschaftsführung ihre Erwartungen außerdem ziemlich hochgeschraubt. Am vergangenen Samstag überwog ein anderer Eindruck. Die Globalisierungskritiker von Attac gelten als hip und modern, fantasievoll und ironisch – obwohl sie auf manche Fragen ähnliche Antworten geben wie die Gewerkschaften. Zudem hatten vorher alle Beteiligten ihre Erwartungen an die Berliner Demonstration eher niedrig gehängt.

100.000 Demonstranten im Mai, 100.000 im November – das Bündnis aus Globalisierungskritikern und Gewerkschaften kann sich auf ein stabiles Fundament des Protests stützen. Keinesfalls ist die Behauptung richtig, dass der Protest gegen die Agenda 2010 gescheitert sei. Im Gegenteil: Die Kritiker haben das Protestpotenzial noch nicht ausgeschöpft. Das zeigen allein schon die miesen Umfragewerte für die Sozialdemokraten.

Politische Wirkung hat der verbreitete Unmut bisher allerdings kaum erzeugt – von einigen marginalen Veränderungen an den Hartz-Gesetzen zum Arbeitsmarkt abgesehen. Rot-Grün versucht, die Gegenargumente zu überhören. Am kommenden Freitag ist mit der Abstimmung im Bundesrat eine weitere Station zur Realisierung erreicht. Das Protest-Bündnis aus Attac und den Gewerkschaften muss sich etwas einfallen lassen. HANNES KOCH