100. Todestag von Karl May: Der lange Weg nach Dschinnistan
Karl May war eine Mischung aus Hochstapler und Traumtänzer. Sein Leiden am Bürgertum goss er in ein literarisches Projekt. Am 30. März jährt sich sein 100. Todestag.
Karl May war ein Impostor, eine Mischung aus Hochstapler und Traumtänzer, von Anfang an. Er kam aus ziemlich elenden Verhältnissen, die Eltern arme Weber, und wollte alles sein, nur nicht er selbst. Es sind die beiden Gesten, wenn Gewalt aus welchen Gründen auch, nicht zur Verfügung steht, mit denen der Zukurzgekommene sich von der Kultur der Gewinnerbürger nehmen will, was ihm zusteht, der Diebstahl und die Hochstapelei.
Karl May klaute, Karl May war als Zechpreller unterwegs, Karl May gab sich als Polizist, Advokat, Richter, gar Generalstaatsanwalt und Augenarzt aus – als bürgerliche Autorität mithin. Karl May tingelte mit einer Theatergruppe durchs Land, Karl May wurden „geistige Erkrankungen“ und „Bewusstseinsstörungen“ zugeschrieben. Ins Zuchthaus kommt er für vier Jahre wegen „Landstreicherei“. Ein fachgerecht verpfuschtes Leben; es kommt nur darauf an, wer da pfuscht, der Drifter zwischen Wahn und Wirklichkeit oder eine bürgerliche Gesellschaft, die sich in der Mischung von Gefühlskälte und Sentimentalität nicht stören lassen will.
Nach seiner Heirat entdeckt er die gefahrloseste Variante von solchen Rollenspielen und verlegt sich auf die Fertigung von literarischer Fantasietätigkeit, wieder maskiert, erst unter verschiedenen Namen, dann freilich, nächste in Deutschland unverzeihliche Sünde, als Autor von „Reiseerzählungen“, die angeblich auf eigene Erlebnisse zurückgingen.
Wie indes musste der Kopf von Menschen beschaffen gewesen sein, die an die Wahrheit von Karl Mays Tall Stories glaubten? Oder daran, dass dieser Autor 1.200 Sprachen beherrsche, von den Dialekten ganz zu schweigen? Auf Karl May hat Deutschland mit einer geradezu komischen Humorlosigkeit reagiert. Damals wie heute. Einfach einen begnadeten Pulp-Fiction-Schreiber mit einer abenteuerlichen Biografie feiern, einen Kerl, der nicht trotz, sondern eben gerade wegen seiner Elendskriminalität, seiner Hochstapelei und seiner Traumtänzerei sympathisch und kreativ gewesen wäre – nicht mit uns! Nein, die deutsche Kultur kann keine subbürgerlichen Rebel Heroes gebrauchen.
Der gut verborgene Zorn
Und so ist die Geschichte von Karl May nicht die eines Mannes geworden, der seinen Zorn gegen die Gesellschaft in seinen Büchern fortsetzt, sondern von einem, der ihn gut zu verbergen lernte. Der nicht von Widerstand, sondern von dem unbändigen Wunsch getrieben wurde, dazuzugehören. So wurde Karl May zum doppelten Spiegel deutscher Bigotterie und deutschen Untertanengeists. Im Gelingen eines gewaltigen literarischen Projekts zur Herstellung einer erträumten Heimat für alle, die am Bürgertum litten und dafür weder Wort noch Tat finden durften, und im Scheitern eines Mannes, der am Ende sogar noch an seiner Kunst verzweifeln musste, als er begann, sich selbst nahezukommen.
Karl May also träumte sich als mehr oder weniger kolonialer, mehr oder weniger demokratischer Superheld, als Kara ben Nemsi, der (verlorene) Sohn der Deutschen, als Old Shatterhand oder Sternheim. Natürlich war er einer von den Guten. Aber das übertrieb er maßlos. Als müsste er unentwegt den Ausgestoßenen und Rebellen in sich übermalen, durch endlose Ketten symbolischer Handlungen, wenn auch gewiss nicht so „wörtlich“ in freudianischer Symbolsprache wie Arno Schmidt das herauslas; jedenfalls wurde aus der Identitätsstörung eine Identitätskonstruktion, die zusammenfasste, was dem Bürger an seiner Welt nicht passte.
Die drei Pfeiler seines wachsenden Werkes sind christliche Mystik, Zivilisationsflucht (auch und gerade, was die technisch-kapitalistische Seite anbelangt) und Naturschwärmerei. Man kann, dies spiegelnd, auch sagen: Karl Mays Werk besteht vor allem aus der Verdrängung des Sexuellen, Verdrängung des Politischen und Verdrängung des Ökonomischen.
Karl May erzählt nicht so sehr, er erschafft eine Welt. „Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand / Radebeul Dresden / Villa Shatterhand“, so steht es auf seiner Visitenkarte. Er lässt sich die „Silberbüchse“ nachmachen und schmückt das Haus mit Jagdtrophäen. Und auf Anfragen seiner treuen Leser antwortet er mit ebenso erfundenen wie detailreichen Schilderungen aus seinem abenteuerlichen Parallelleben.
Bald gründen sich die ersten Karl-May-Klubs; ihre Delegationen empfängt er im Old-Shatterhand-Dress. Und nun scheint es, als wäre sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen. Karl May wird in die Salons der guten Bürger geladen, der Impostor hat sogar noch mehr geschafft: Selbst der Adel beugt sich wohlwollend zu ihm, feuchtester Bürgertraum des Wilhelminismus. Und dann bricht das alles wieder zusammen.
Die Rolle des Schurken im Drama des Karl May spielte der Journalist Rudolf Lebius. Er versuchte Kara ben Nemsi zu vernichten, weil er selbst ein nicht minder verpfuschtes Leben aushalten musste, aber kein Traumland gefunden hatte. Nicht, dass er es nicht versucht hätte. Lebius kam aus der anderen Richtung, von oben. Sein Vater, ein reicher Getreidehändler, ermöglichte ihm das Studium der Zahnmedizin ebenso wie das von Jura und Philologie. Eine gutbürgerliche Karriere schien vorgezeichnet.
Neue Heimat Sozialdemokratie
Doch der Tod des Vaters nebst Erbschaftsstreit beendete die diesbezüglichen Träume. Er suchte und fand schließlich eine neue Heimat in der Sozialdemokratie: Er trat der SPD bei, schrieb für den Vorwärts, wurde aber bald wegen verleumderischer Artikel angeklagt und verließ die Partei wieder. Lebius’ politisches Traumreich nahm zunehmend präfaschistische Züge an; er schloss sich rechten Vereinen an und wurde zum streitsüchtigen Gegner von Sozialdemokratie und Gewerkschaften.
In seine Polemiken mischen sich mehr und mehr antisemitische Töne. Ein besonderes Anliegen ist es ihm, Juden vom Staatsdienst fernzuhalten und die deutsche Kultur „rein“. Vielleicht sind es dann nicht allein Geldsorgen, die ihn dazu bewegen, einen Erpressungsversuch an dem „Volksschriftsteller“ Karl May zu starten. Er bietet ihm an, für seine Reputation in deutschnationalen Kreisen zu werben, ein kleines „Darlehen“ als Gegenleistung vorausgesetzt. Im Hintergrund steckt die Drohung, die früheren Verfehlungen Mays und seine Haftstrafen publik zu machen. May lehnt ab, und es kommt zum Prozess.
Verteidigung und Demontage von Kara ben Nemsi gibt die Spaltung des deutschen Bürgertums wieder. Der „weiche“ christliche Mystizismus, die Fortschrittsfeindlichkeit und vor allem der Pazifismus von Karl May sind vielen längst ein Dorn im Auge. Lebius, auch wenn vor Gericht nicht übermäßig erfolgreich, wittert die Chance seines Lebens; er muss diesen Menschen, den Impostor, den Aufsteiger zur Strecke bringen. Lebius’ Broschüre „Karl May – ein Verderber der deutschen Jugend“ erscheint im Jahr 1908 und ist da schon erfolgreicher als die neuen Arbeiten von May selbst.
Im April des Jahres 1912 veröffentlichte Lebius noch einmal einen üblen Nachruf auf den toten Dichter der deutschen Seele in seiner Zeitung Der Nationaldemokrat – und verschwand mit dem Objekt seines neidigen Hasses aus dem Gedächtnis der Deutschen. Zwei Gescheiterte der wilhelminischen Gesellschaft hatten sich einen Schaukampf geliefert, der Aufsteiger und der Gefallene. Sieger blieben Nationalismus, Rassismus, Krieg und Faschismus.
Die Nachgeschichte zu Karl May hat an der expressiven Zerrissenheit von Autor und Werk nichts geändert. Die Soldaten des Ersten Weltkriegs trugen ihren Winnetou im Tornister; vergessen, dass man sein Abenteuertraumland andernorts als geistige Fahnenflucht bezeichnete.
Adolf Hitler war ein begeisterter Karl-May-Leser, und im „Dritten Reich“ begann daher ein neuerliches Übermalen und Verdrängen. Seine Bibliothek und sein Nachlass waren sorgfältig „gereinigt“ worden, zuerst durch die Witwe Klara May, die auch „nötige Änderungen“ im Werk selbst vornahm, während sie die öffentliche Fantasietätigkeit des Verstorbenen wieder aufnahm und noch bis in die Mitte der dreißiger Jahren von wundersamen Abenteuern mit Karl May/Old Shatterhand erzählte. Im Jahr 1938 machte sie dem Führer den Vorschlag, Karl Mays Buch „Und Friede auf Erden!“ im Sinne des Nationalsozialismus zu korrigieren. Da hatten die Nazis schon anderes zu tun.
Misstrauische pädagogische Blicke
Und dann, als wäre nichts geschehen, begleiteten Kara ben Nemsi und Old Shatterhand in den kaum veränderten Büchern mit dem grünen Leineneinband auch die ersten Kinder des Nachkriegs ins Leben, wenn auch unter misstrauischen pädagogischen Blicken, bis dann in den sechziger Jahren mit einer Serie von bunten Breitwandfilmen das deutsche Traumland des Abenteuers in Jugoslawien noch einmal neu gefunden wurde, mit einem Franzosen als Winnetou und einem Amerikaner als Old Shatterhand, und trotzdem unnachahmlich deutsch.
Die Filme funktionierten letztendlich nicht anders als die Romane, als Protest gegen ein Erwachsenwerden in einer ebenso langweiligen wie bösartigen „Civilisation“. Auch sie setzten dem harten, technoiden und rationalistischen Wirtschaftswunder (nebst ersten Krisen) einen weichen, schwärmerischen und vormodernen Ton gegenüber. Was der amerikanische Western nebenan gerade verlor, das errichtete der deutsche Karl-May-Film wieder, als Kinderfantasie.
Am Ende seiner Reise führte das Abenteuer Karl May nicht mehr in den Orient oder in den Westen, sondern auf den Planeten Sitara, ins Reich des Bösen, Ardistan und ins himmlische Reich des Friedens, Dschinnistan. Geisterwelt. Vielleicht hat er da gefunden, was er schon immer gesucht hatte: „Wer in der Wüste schmachtet, der lernt den Wert des Tropfens erkennen, der dem Dürstenden das Leben rettet. Und auf wem das Gewicht des Leides und der Sorge lastete, ohne dass eine Hand sich helfend ihm entgegenstreckte, der weiß, wie köstlich die Liebe ist, nach der er sich vergebens sehnte.“ (Durchs wilde Kurdistan, Freiburg 1892).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin