piwik no script img

Archiv-Artikel

100 Meisterzeichnungen des 19. Jahrhunderts in der Kunsthalle Naturstudien und Wutausbrüche

Ein schwerer brauner Samtvorhang versperrt den Weg, trennt den labyrinthischen Gang von der Welt. Stark verdunkelt ist es hier, denn Zeichnungen sind das Sorgenkind jedes Konservators. Nur wenige Wochen im Jahr dürfen die kostbaren Blätter gezeigt werden – und müssen bald wieder in der Dunkelheit der Sammlung verschwinden.

Vor allem mit Alfred Lichtwark, dem ersten Direktor der Hamburger Kunsthalle, setzte im späten 19. Jahrhundert der Erwerb von Zeichnungen ein. Vor zwei Jahren war Von Dürer bis Goya zu sehen, derzeit zeigt das Museum Zeichnungen des 19. Jahrhunderts – Von Runge bis Menzel. Gelungene Versuche, das eher unspektakuläre Genre der Grafik einem breiteren Publikum zugänglich zu machen; parallel sollen die Bestände des Kupferstichkabinetts erstmals vollständig in Katalogen erfasst werden.

Die aktuelle Ausstellung ist ein konzentrierter Gang durch die Geschichte deutscher Kunst des 19. Jahrhunderts, ein Labyrinth verschiedener Strömungen und Moden. Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge, die Nazarener, Joseph Anton Koch, Moritz von Schwind, Menzel, Klinger bis hin zu Liebermann – alle sind in der Ausstellung mit hervorragenden Arbeiten vertreten.

Es ist der intime Ausdruck der graphischen Künste, die Max Liebermann hat ausrufen lassen: „In der Zeichnung als der unmittelbarsten Niederschrift des künstlerischen Gedankens offenbart sich die Phantasie des Künstlers reiner und klarer als im vollendeten Werke.“ Runges Selbstbildnis am Zeichentisch aus dem Jahr 1801 ist dafür ein beredtes Beispiel. Der Künstler blickt den Betrachter mit konzentrierter Offenheit an.

Neben dem symbolischen Landschaft mit Grab, Sarg und Eule fasziniert unter den Arbeiten von Caspar David Friedrich vor allem die kleine sepiabraune Landschaft Mondaufgang am Meer, die in den späten dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden ist: Runge zeigt die grandiose Leere der Küstenlandschaft auch auf kleinstem Format, immer heller zum Horizont werdend, da wo die Welt reines Licht ist.

Mit ganz praktischen Problemen hatte indes Joseph Anton Koch zu kämpfen, der gerne über nicht trocknende Farben und Lasuren klagte. Mit freundlichem Spott zeigt Bonaventura Genelli in einer Federzeichnung einen Wutausbruch Kochs vor der Staffelei. Der Maler Joseph Anton Koch versucht eines seiner Gemälde mit dem Messer zu erstechen, heißt das kleine Blatt, das 1908 in die Sammlung der Kunsthalle kam (Abb.: Katalog).

Zurückhaltender und spröder dagegen der Duktus der katholisch beseelten, in Rom arbeitenden Künstler wie Friedrich Overbeck, dessen Handschrift in einem Katalogbeitrag mit der Albrecht Dürers verglichen wird. Tatsächlich wirken viele der religiösen Motive von Overbeck heute beinahe wie spätmittelalterliche Stiche, sehr präzise, doch auch dünn und blutleer gestaltet. Ebenso akribisch erfasst Julius Schnorr von Carolsfeld einen Sitzenden Jünglingsakt mit Schalmei aus dem Jahr 1822.

Victor Emil Janssen dagegen hat den strengen, präzisen Stil der Nazarener bereits überwunden. Der Kopf eines schreienden Jungen aus dem Jahr 1834 ist ein eindringliches Beispiel eines packenden, künstlerischen Übernaturalismus. Ludwig Richters Baumstudie, Jacob Genslers Dünen bei Scheveningen oder auch Johann Georg von Dillis Wolkenzeichnung wiederum offenbaren das starke Interesse des 19. Jahrhunderts an der Darstellung von Naturphänomenen. 150 Blätter mit Wolken soll Dillis am Fenster seiner Münchner Wohnung geschaffen haben.

Mit zwei Pastellen von Max Liebermann, einigen Bleistiftzeichnungen von Adolph Menzel und Max Klingers symbolistischen Federzeichnungen wie Der Tiger in der Felsschlucht (Die Zukunft) oder Alpdrücken aus dem Jahr 1879 schließt die Ausstellung – Arbeiten, deren Wirkung auf die Kunst des 20. Jahrhunderts kaum zu unterschätzen ist. Vorhang auf, hinaus ins Licht.

MARC PESCHKE

Von Runge bis Menzel: 100 Meisterzeichnungen aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle; Di– So 10–18 Uhr, Do bis 21 Uhr; Hamburger Kunsthalle; bis 17.8.; Katalog 23 Euro