10 Jahre nach Tschernobyl: "Ich fühle mich nicht schuldig"
■ Boris Rogojkin steuerte 1986 den Tschernobyl-Reaktor und wanderte dafür ins Gefängnis. Nun spricht er zum erstenmal über die Nacht der Katastrophe
Vor Ihnen steht der Mensch, der die Atomzentrale hat hochgehen lassen“, sagt Boris Rogojkin und lächelt bitter. Vor zehn Jahren, in der Nacht vom 25. zum 26. April 1986, die das Leben von Millionen Menschen schlagartig änderte, stand der Ingenieur am Kontrollpult des Atomkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine. 30 Menschen starben sofort, Hunderttausende wurden radioaktiv verstrahlt und für den Rest ihres Lebens gezeichnet. Auch der einstige Schichtleiter, heute 61 Jahre alt, hat gebüßt: Er wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er zweieinhalb Jahre absitzen mußte. Aber er hat überlebt.
„Ich fühle mich nicht schuldig. Die Angestellten mußten doch nur gehorchen und die Bedienungsanleitungen beachten. Uns sagte man immer, daß es keinen besseren Reaktor als unseren gebe. Warum hätte ich das nicht glauben sollen?“ Zehn Jahre nach der Katastrophe ist er von der „Havarie“ noch immer besessen. Mit einem Stift zeichnet er ein Schema auf ein Blatt Papier und versucht, die Schreckensstunden zu rekonstruieren.
In jener Nacht tritt Rogojkin den Dienst in der Schaltzentrale um Mitternacht an. „Alles war normal“, erinnert er sich. Doch das scheint nur so: Die Leitung des Atomkraftwerkes hatte einen Versuch beschlossen – und zwar mit Reaktor Nummer vier. Der Versuch hätte bereits zu Ende sein müssen, doch das ist er nicht, als Ingenieur Rogojkin die Steuerzentrale betritt. „Da war kein einziger Ingenieur mehr, der den Versuch hätte beaufsichtigen sollen“, erzählt er. Für den Versuch hatten die Bediener das Sicherheitssystem außer Betrieb gesetzt und die Regelstäbe zur Kontrolle der Kettenreaktion weit herausgefahren, die sonst automatisch ein Überhitzen des Reaktors verhindern.
Um 1.23 Uhr spüren die ahnungslosen Angestellten eine dumpfe Vibration. Jemand drückt auf den Notauslöser „AZ-5“, um das Einfahren der Regelstäbe manuell auszulösen. Es dauert 21 Sekunden, bis die Stäbe mit dem Herunterbremsen der Kettenreaktion beginnen. Doch es ist schon zu spät. Zehn Sekunden später hört Boris Rogojkin „ein Geräusch, als ob etwas Schweres zu Boden fällt“. Das war die Explosion. Sämtliche Alarmsirenen fangen an zu heulen, die Anzeigeinstrumente blinken, Rogojkin sitzt in der Schaltzentrale abwechselnd im Hellen und im Dunkeln, denn die Beleuchtung schwankt. Die Leistungsanzeige des Reaktors springt von 0 auf 5 Megawatt, unmöglich.
Ein Wachmann brüllt Rogojkin an: „Einer deiner Reaktoren brennt!“ Ein Lautsprecher ertönt: „Unfall in Reaktor Nummer vier, Unfall in Reaktor Nummer vier ...“ Ingenieur Rogojkin rennt in Richtung Reaktorblock und sieht schon beim Laufen das große Loch in der Kuppel. „Ich habe sofort umgedreht und Moskau und Kiew angerufen, um ihnen zu sagen, daß der Schutzmantel nicht mehr dicht ist, was zu Opfern führen könnte. Dann habe ich meinen Helm genommen und bin in den Maschinenraum des Reaktors gegangen.“
Am nächsten Tag hat Rogojkin um 12 Uhr mittags Dienstschluß. Er geht nach Hause, betrinkt sich mit Wodka und wirft sich aufs Bett. „Nur mit Wodka konnte man die nächsten Monate überstehen.“ Als er um Mitternacht erneut zum Dienst erscheint, hat aus Angst vor weiteren Explosionen noch niemand gewagt, die anderen Reaktoren abzuschalten. „Niemand von der Kraftwerksleitung war da, nichts wurde entschieden“, entrüstet sich der Ingenieur zehn Jahre danach. „Ich hatte Angst, aber ich habe meine Pflicht erfüllt und die beiden anderen Reaktoren abgeschaltet.“
Später muß Rogojkin ins Gefängnis, weil ihm eine Mitverantwortung für die Reaktorkatastrophe angelastet wird. Neben ihm werden fünf weitere Angestellte zu Haftstrafen zwischen zwei und zehn Jahren verurteilt. Alle sind inzwischen wieder auf freiem Fuß – doch drei von ihnen haben die Folgen des Reaktorunfalls nicht überlebt.
Zehn Jahre nach der Katastrophe ist der genaue Ablauf immer noch nicht bis ins letzte geklärt, zwei Reaktorblöcke sind noch in Betrieb. Rogojkin will von ihrer Abschaltung nichts wissen. „Wenn man die Versuche vom 26. April 1986 nicht wiederholt, geht alles gut“, ist er überzeugt und wird sarkastisch: „Mein einziger Fehler war, damals nicht gestorben zu sein.“ AFP
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