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Archiv-Artikel

Edward Snowden und ich

EINSICHTEN Unser Autor macht sich im Netz auf die Suche nach seinen Daten. Er stößt dabei auf Firmen mit seltsamen Namen, die er nicht kennt – die aber seine Zukunft errechnen. Fast wie die NSA? Plötzlich wird ihm ganz anders

Wissen Sie mit!

■ Das eigene Facebook-Archiv: Die Daten, die man Facebook überlassen hat, können in den Einstellungen geladen werden: von den Kontoeinstellungen zum Punkt „Allgemeines“. In blassem Blau und Grau wird hier auf eine Kopie „deiner Facebook-Daten“ verwiesen.

■ Der Google-Anzeigenmanager: Was bewirbt Google bei mir? Den verschlungenen Weg zur Antwort umgeht man am besten: durch Googeln. Einfach nach „Anzeigenvorgaben-Manager“ suchen. Sollte Haarpflege zu Unrecht fehlen, lässt es sich hier manuell ergänzen.

■ Datenschutz-Tools: Wie man den Firefox-Browser zum digitalen Bollwerk ausbaut, erklärt die German Privacy Foundation: ob mit Werbeblockern, mit Ghostery oder Programmen, die Tracking verhindern. Klick: bit.ly/yd30Vp

VON JOHANNES GERNERT

Sechs Tage bevor die Welt Edward Snowden kennenlernt, stehe ich in einem Gewerbegebiet in Düsseldorf in einem Raum, der brummt, und versuche herauszufinden, warum mir mein Mailanbieter GMX nachts nackte Frauen zeigt. Um mich herum fließen Daten. Irgendwo könnten auch ein paar von mir vorbeirasen durch die blauen, roten, gelben Kabel.

Von diesem Rechenzentrum aus verteilt die Firma Adition Werbung auf Internetseiten. Banner, manche maßgeschneidert, auf stern.de, taz.de – und auf GMX. Flache Computer, die hier Server heißen, stapeln sich in Schränken fast bis zur Decke. Das Rauschen der Daten klingt beruhigend.

Sechs Tage später ist überall Edward Snowdens blasses Gesicht zu sehen, alle reden von Geheimdiensten, und plötzlich wiegen die Fragen, die mich an diesen Ort geführt haben, so viel schwerer: Was wissen all die Firmen über mich – GMX, Facebook, Google, Karstadt und Acxiom?

Im ungeschriebenen Vertrag über das Verhältnis von Internetnutzerinnen zu Internetfirmen steht unter Paragraf 1, Absatz 1: Die Nutzer zahlen mit ihren Daten. Dafür kriegen wir Facebook, Google, Twitter, Skype und GMX gratis. Das ist der Deal.

Was ist das für ein Deal in der Welt nach Edward Snowden? Jetzt, wo wir wissen, wie einfach NSA, GCHQ oder der BND an die Daten kommen, mit denen wir zahlen.

Das Institut in den USA, das die Onlinekonzerne kontrollieren soll, heißt Federal Trade Commission, man könnte sagen: Bundeshandelskommission. Julie Brill sitzt seit einigen Jahren in dieser Kommission. Sie ist eine Frau, die gern strenge Blazer trägt, dazu eine freundliche, runde Hornbrille, in Deutschland würde man sie eine Datenschützerin nennen.

Am Vormittag des 26. Juni hält Brill einen Vortrag auf der Konferenz für Computer, Freiheit und Privatsphäre in Washington. Wir hätten zwar schon immer geahnt, sagt die Juristin, dass Unternehmen oder der Staat ohne unser Wissen und unsere Zustimmung auf oft überraschenden Wegen private Informationen anhäufen, um sie auf eine Art zu nutzen, die wir weder erwarten noch verstehen und der wir auch nicht zugestimmt haben. Aber erst Edward Snowden habe klargemacht, was der Tausch – Daten gegen gratis Services – bedeute: Wenn sie unsere Daten gegen uns verwenden wollen, haben wir keine Chance.

Julie Brills Rede hat den Titel „Reclaim your Name“ – Holt euch euren Namen zurück. Sie will ein Onlineportal schaffen, auf dem jede Bürgerin, jeder Bürger der USA herausfinden kann, welche Informationen die Datensammler und Datenhändler, die Marketingfirmen und Onlineshops besitzen. Brill wirbt für eine Möglichkeit, falsche Informationen zu korrigieren – und damit das Bild, das sich diese Firmen zum Namen gemacht haben.

Man kann all das im Skript ihrer Rede auf der Seite der Federal Trade Commission nachlesen.

Während die USA Anklage unter dem Espionage Act gegen Edward Snowden erheben, erklärt ihn das Vorstandsmitglied einer US-Bundesbehörde zum Helden.

Was würde ich auf so einem Portal, wie es Julie Brill vorschlägt, über mich finden?

Oberflächlich betrachtet, besteht mein Deal mit den Internetfirmen vor allem aus Werbung. Es ist das, was am Rande von Onlineseiten blinkt.

49 Firmen sammeln meine Daten. Ich kenne keine

Auf meine-cookies.org kann ich feststellen, welche Firmen Informationen über mich sammeln, um Onlinewerbung für mich zu schalten. Ich zähle 49 von ihnen. Ich lese unbekannte Namen: Xaxis, Value Click Media, Quantcast.

Man kann sich das so vorstellen: Während Sie diesen Text lesen, schauen Ihnen sieben Menschen über die Schulter, die alle etwas auf einem Klemmbrett notieren. Sie wissen nicht genau, was.

Sie wissen nur, dass diese Menschen Ihren Namen nicht kennen dürfen, aber Ihr ungefähres Alter und Ihr Geschlecht – und nach der Lektüre dieser Zeitung ein paar Notizen darüber haben werden, wofür Sie sich besonders interessieren. Politik, Leibesübungen, Medien.

Haben Sie diese Abo-Anzeige gesehen?

Vielleicht gehen Sie später in einen Schuhladen und probieren ein Paar an, und wieder sind da diese Menschen mit den Klemmbrettern. Im nächsten Schuhladen kommt Ihnen schon eine Verkäuferin entgegen mit dem Paar, das Sie gerade anprobiert haben. Noch mal reinschlüpfen?

Die Klemmbretter mit den Notizen heißen Cookies. Wenn wir uns online durch die Artikel auf bild.de oder taz.de klicken, wenn wir bei ebay.de oder otto.de shoppen, haben immer ein paar Firmen ihre Beobachter abgestellt, also Cookies auf unseren Rechnern abgelegt. Man nennt das Tracking. Auf Deutsch: Verfolgung.

Um mehr über meine Verfolger herauszufinden, muss ich sie sichtbar machen. Das geht mit einem Programm namens Ghostery, das mir auf jeder Webseite, die ich besuche, ab jetzt immer eine lila Liste mit den Namen meiner Tracker einblendet.

Beim Schuhanbieter Zalando sehe ich manchmal 24 Tracker, die Informationen an Facebook, Google, an dessen Werbeabteilung Doubleclick, aber auch an Firmen wie AdMeld oder Webtrekk senden. Sie sind dafür verantwortlich, dass sich meine Kollegin gelegentlich von einem Schuh verfolgt fühlt, der überall im Netz auftaucht.

Ghostery hilft mir, die Tracker bei GMX auszukundschaften. Der erste Verfolger ist: Adition. Nach Google zählt Adition zu den größten Verteilern von Werbebannern in Deutschland. Der Geschäftsführer, Jörg Klekamp, hatte mich nach Düsseldorf ins Gewerbegebiet eingeladen. Dahin, wo die Daten rauschen.

Wieso erscheinen mir nachts diese nackten Frauen auf GMX?

Ein Konferenzraum, eine Filterkaffeekanne, Jörg Klekamp hat jemanden vom Bundesverband Digitale Wirtschaft dazugeholt. Beide sehr business casual, Jeans, Hemden. Als ich ihre Zitate später autorisieren lassen will, schreibt sie der Verbandsmensch in zeilenlange Erörterungen um, die wie Gesetzestexte klingen. Auch aus Sorge, es könne ein Zerrbild entstehen, wenn man Onlinewerbeindustrie und NSA gedanklich verbindet. Edward Snowden, klar.

„Erotikwerbung unterliegt in Deutschland den klaren Richtlinien des Jugendmedienschutz Staatsvertrags“, will er nun gesagt haben.

Aha?

Jörg Klekamp malt Begriffe und Pfeile an eine Tafel, Adfarm1, Profilvariable, Gender, Alter.

Grob ist es so: Firmen wie Axe oder BMW wollen mit ihren Bannern Zielgruppen erreichen. 40 bis 45, männlich, duschgelinteressiert. Oder: 30 bis 35, weiblich, rennwagenaffin. Firmen wie Adition gleichen die Zielgruppenvorgaben mit den Cookies oder noch spezielleren Infoschnipseln aus meinem Browser ab. Wenn ich ins Profil passe, schicken sie den Banner auf meinen Bildschirm.

Man könnte GMX auch werbefrei nutzen. Das würde 2,99 Euro im Monat kosten.

Viele Werbefirmen haben offenbar kein Interesse, mich allzu genau kennenzulernen. Um mich persönlich zu werben ist immer noch relativ teuer.

Worauf besonders Verbandsvertreter gern hinweisen: Google kombiniert viel, viel mehr Daten als deutsche Firmen wie Adition.

Google also. Der Suchschlitz in meinem Browser. Ein Konzern, der Hunderte Millionen Nutzer hat, weil er es versteht, Dinge einfach und nützlich zu gestalten. Kalender, Mailprogramme.

Zu den eigenen Cookie-Informationen zu gelangen will Google offenbar so schwer wie möglich machen. Ich muss dafür den Anzeigenvorgaben-Manager aufspüren.

Wenn man eine Werbeagentur beauftragen würde, ein Wort zu erfinden, das sich so abschreckend liest, dass 97 Prozent der Internetnutzer bei seinem Anblick Angst vor Klickkrätze bekämen, wäre Anzeigenvorgaben-Manager ein echter Kandidat.

Nach etlichen Links und Klicks teilt er mit: Ich bin zwischen 25 und 34 Jahre alt. Meine Interessen, basierend auf meinen Suchanfragen, sind unter anderem: Abenteuerspiele, Bankwesen, Haarpflege, Schönheit und Fitness, Smartphones – und Toyota.

Haarpflege? Toyota?

Daten gelten heute als mächtiger denn je. Big Data ist der Begriff, der diese Macht umschreibt: Der Paketdienst UPS spart Millionen, weil er aus den Datenmassen seiner Fahrer die günstigsten Wege errechnet. Google sagt vorher, wie eine Grippeepidemie verläuft. Man kann den Aktienkurs einer Hotelkette schätzen, indem Kameras messen, wie viele Hotelzimmerfenster beleuchtet sind.

Das Wort Big in Big Data, hat Commissioner Julie Brill in ihrer Rede gesagt, deute vor allem auf das Riesengeschäft hin, das sich mit ihnen machen lasse. In jeder Minute spuckten wir unsere Daten in der Gegend herum, während wir an einer Sicherheitskamera vorbeigehen, unsere Kreditkarte irgendwo durchziehen oder auf eine App tippen.

Google sitzt auf einem der größten Datenschätze dieser Erde. Es kennt viele meiner Mails, meine Termine, meine Suchbegriffe. Wie kommen seine Algorithmen darauf, ich würde mich für Toyota interessieren – oder für Haarpflege?

Warum weiß Facebook, wo ich mit Oma essen gehe?

Es sind Widersprüche wie diese, die mich verwirren. Ich würde mich gern auflehnen gegen die Allmachtsallianz aus Geheimdiensten, Onlinefirmen und Datenhändlern, die eine Überwachungswelt schaffen. Aber dann kommt mir manches wieder so putzig unbeholfen vor. Warum lesen NSA und dessen britische Partner vom GCHQ alles Mögliche mit, aber können Attentate wie das von Boston nicht verhindern? Man könnte das auch als Schutz betrachten: dass vieles in diesem Meer aus Daten einfach untergeht.

Womöglich geht es einigen wie mir. Die Macht der Daten ist uns theoretisch völlig klar. Amazon beispielsweise weiß ja nicht nur, welche Bücher ich vor mehr als zehn Jahren gekauft habe, sondern auch, welche Stellen ich in meinen E-Books markiere. Aber alle Bücher in einem leichten Kindle überall abrufbereit zu wissen fühlt sich gut an.

Ich war bisher duldsam wie offenbar viele. Vielleicht, mutmaßt eine Sprecherin der Bundesverbraucherzentralen, müsse den Leuten erst klar werden, was das Tracking langfristig ermögliche, bevor sie sich aufregen: dass man unterschiedlichen Onlineshoppern etwa unterschiedliche Preise anbiete oder unterschiedliche Versicherungstarife. Diskriminierung also.

Beschwert habe sich bisher kaum einer. „Was auch daran liegen könnte, dass viele gar nicht wissen, dass sie getrackt werden“, glaubt sie.

Vielleicht fehlt uns die konkrete Vorstellung dieser digitalen Zukunft.

„Der Spruch des Tages“, ruft Andreas Weigend ins Telefon: „Daten sind so viel wert wie der Einfluss, den sie auf Entscheidungen haben.“

Weigend stammt aus Deutschland, war Amazons Chefwissenschaftler und forscht heute in Stanford. Er nutzt das Programm Google Now, das sämtliche Informationen sammelt, um ein guter Assistent zu sein und etwa Flugverspätungen mitzuteilen. Seine eigenen Daten gibt Andreas Weigend furchtlos her und weiß, was sie Unternehmen bringen können. Gerade lässt er sich in Singapur die Füße massieren.

Jeder erzeuge heute, wie heißt das gleich auf Deutsch, data exhaust, genau: Datenabgase. Unternehmen speisen sie in Modelle ein, die berechnen, wie sich Menschen als Konsumenten verhalten. Alles also eine Frage der klugen Abgasmessung. Etwa: „Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich im nächsten Jahr einen Swimmingpool kaufen“, ruft Weigend.

Geheimdienste und Marketingfirmen, NSA und Amazon, denken da sehr ähnlich: Sie versuchen, den nächsten Schritt abzusehen, bevor ihn einer tut. Swimmingpool. Sprengstoffanschlag. Whatever.

Weigend unterscheidet zwei Ansätze: über meine Verbrauchervergangenheit, meine Cookies etwa, den Konsumenten verstehen, der ich heute bin. Oder: in all meinen Daten erkennen, was ich gleich tun werde. Dafür steht auch Google Now, der Assistent auf dem Smartphone, der liefern soll, was man braucht, bevor man es sucht. Stauinformationen, Wetternews. Hier wäre übrigens der Schuhladen, da McDonald’s. Haben Sie die Starbucks-Filiale gesehen?

Die Informationen der Tracker von den Onlineseiten verbinden sich so mit GPS-Daten. Nicht mehr nur Klick für Klick, auch Schritt für Schritt.

Misstrauisch macht mich, wie wenig Google oder Facebook mir über meine Daten verraten wollen. Es sind doch: meine.

Ich muss auch bei Facebook ewig suchen, bis ich das „Archiv“ bestellen kann, in dem nicht nur meine Login-Daten – Tag, Monat, Uhrzeit, IP-Adresse –, sondern auch meine „Ad Topics“ gespeichert sind, die Werbethemen. Dazu zählen Dinge, die ich mit einem „Like“ versehen habe. Und: der Bierpinsel. Ein Restaurantturm in Berlin. Da bin ich früher mit meinen Großeltern essen gegangen. Ich weiß nicht, woher Facebook weiß, dass ich etwas mit dem Bierpinsel zu tun habe.

Mir kommt das langsam wie ein mieser Deal vor. Facebook oder Google scheinen lieber mit der NSA zu kooperieren, als mir eine einfache Möglichkeit anzubieten, zu sehen, was genau sie über mich wissen.

Erst vor wenigen Tagen hat der Marktforscher eMarketer Zahlen veröffentlicht. Noch 2011 soll Facebook 3,15 Milliarden mit Werbung eingenommen haben, 2013 dürften es schon 5,89 Milliarden Dollar sein. Bei gut einer Milliarde Nutzern macht das mehr als 5 Dollar pro Kopf: für die Werbethemen-Liste, die bei mir mit #2011 FIFA Women’s World Cup beginnt und mit #ZDFneo endet. Dazwischen so komische Stichworte wie #Gaming Instinct oder #Hanover.

5 Dollar für einen 24-Stunden-Service, für das Speichern ganzer Fotoalben, das Chatten mit meiner Cousine in Texas, für ständige Updates über virtuelle Freunde. Das ist nicht viel. Andererseits ist da dieser Bierpinsel, der das Ganze so persönlich macht, obwohl ich mit Privatem auf Facebook sehr geize.

Wenn die Daten ihre volle Macht entfalten, sieht das etwa so aus: In der Nähe von Minneapolis stürmt ein Vater in eine Filiale der Supermarktkette Target. Wieso schicke Target seiner Tochter Coupons für Babyklamotten? Wolle der Laden sie animieren, schwanger zu werden?

Als der Manager den Vater einige Tage später anruft, um sich noch einmal zu entschuldigen, wirkt der etwas zerknirscht: „Es gab hier wohl einige Aktivitäten in meinem Haus, von denen ich nichts mitbekommen hatte.“ Die Statistikabteilung der Firma hatte mit ihrem Modell zur Schwangerschaftsschätzung mehr über ein junges Mädchen herausgefunden als sein eigener Vater.

Facebook-Likes kombiniert mit Treueherzen

Wo es solche Möglichkeiten gibt, wie weit ist es da noch zur totalen Überwachung?

Und wäre es zu viel verlangt, dass diese junge Frau auf einem Onlineportal, wie Commissioner Julie Brill es sich vorstellt, nachlesen kann, dass ein Konzern sie für schwanger hält?

Hätte Target daran ein Interesse?

Auf 72 Milliarden Dollar schätzt eine Studie der Boston Consulting Group den kommerziellen Wert persönlicher Daten allein in Europa des Jahres 2011. Daten sind das neue Öl, sagen manche.

Meine Generation, diagnostiziert Nina Pauer in der Zeit, habe ein großes Urvertrauen, dass schon jemand auf sie aufpassen werde. Deshalb nehme sie auch die NSA-Enthüllungen so gelassen. Mutti kümmere sich schon.

Ich spüre dieses Urvertrauen, gleichzeitig stelle ich mir jetzt manchmal vor, wie ich in einem Verhörraum sitze, auf dem Tisch ein Stapel voller Klemmbretter.

Sie interessieren sich also für #Gaming Instinct, sagt der Vernehmer, der eine runde Plastikscheibe vor dem Gesicht hat. Ich trage einen orangen Anzug.

Es ist kein Gedanke, den ich mag, weil er mir all mein Vertrauen mit einem Mal nimmt. Aber NSA und Guantánamo gehören zusammen.

Terrorabwehr ist das einzige Argument, das die USA, das Barack Obama, zur Verteidigung ihres Überwachungsstaates vorzubringen haben.

Wo ist Mutti?

Warum rufen wir sie nicht – mit Demos vor dem Kanzleramt, wie bei Guttenberg damals?

Der Staat Kalifornien stellte im Februar das „Right to Know“-Gesetz vor, das seinen Bürgerinnen das Recht auf detaillierte Informationen der Firmen, die die Daten speicherten, zugestehen sollte. Konzerne wie Google und Facebook wehrten sich. Das Gesetz wurde zurückgestellt.

Manche verglichen Facebook daraufhin mit dem Ölkonzern Exxon Mobil.

Im April wurde bekannt, dass Facebook in den USA mit Acxiom kooperiert. Das Unternehmen, Hauptsitz in Little Rock, Arkansas, kauft und verkauft Kundendaten. Namen, Adressen, Kreditkarteninformationen. Durchschnittlich 1.500 Informationseinheiten von mehr als 500 Millionen Konsumenten.

Diese Offlinedaten aus den Acxiom-Karteien werden nun mit den Onlineinformationen aus dem Netzwerk kombiniert. Man kann auf Facebook damit Werbung für Menschen schalten, die im Supermarkt häufig Cornflakes kaufen. Die Kombination von Facebook-Likes mit Treueherzen und Bonuspunkten.

Es gehe nur um Gruppen von Menschen, nicht um Individuen, teilt Facebook mit.

Je mehr Informationen allerdings vorliegen, desto einfacher lässt sich aus anonymisierten Daten eine Person ablesen.

Je mehr Facebook das Potenzial der Daten ausschöpft, desto größer seine Einnahmen. Desto kleiner unsere Privatsphäre.

Im deutschen Datenschutzgesetz gibt es den Paragrafen 34, der es mir erlaubt, Auskünfte über mich selbst bei Unternehmen einzuholen – auch bei Acxiom. Die Seite selbstauskunft.net verschickt die formal korrekten Bitten per Fax.

Ich lasse nicht nur ein Fax an Acxiom verschicken, sondern auch an mehr als zwanzig andere Firmen, von denen ich zuvor kaum gehört habe. Schober etwa, auch ein Adressensammler. Oder Acumio und Arvato.

Die eigene Axciom-Akte. Mein Herz pocht

Die Antwort dauert. Ich rufe bei Acxiom an.

Der Geschäftsführer von Acxiom Deutschland hat eine angenehme tiefe Stimme. Er heißt Carsten Diepenbrock, sein Büro liegt in einem Industriegebiet in Neu-Isenburg in Hessen. Diepenbrock hat wenig Zeit, aber er versucht trotzdem genau zu erklären, ein bisschen wie Armin aus der „Sendung mit der Maus“.

Acxiom versuche Affinitäten zu erschätzen. „Das sind etwa mathematisch hergeleitete Aussagen: Wir vermuten, dass diese Person ein größeres Interesse hat an einem größeren Fahrzeug, weil man weiß, dass in der Ecke überdurchschnittlich viele Familien leben.“

So könnten Sie etwa einem Autohändler helfen, einen neuen Standort zu finden oder ein Plakat besonders günstig zu platzieren.

Diepenbrock mag das Wort Datensammler nicht, auch wenn er nachvollziehen könne, warum es immer in der Presse stehe. Er bevorzugt: Marketingservicedienstleister.

Weil der deutsche Datenschutz gebietet, dass keine personenbezogenen Daten verwendet werden, legt Acxiom in Deutschland Mikroprofile für immer mindestens fünf Haushalte an. „Wir arbeiten mit anonymisierten Schätzdaten. Es sei denn, Sie haben einem Dienstleister die Einwilligung gegeben, Ihre Adressdaten fürs Targeting zu nutzen.“

Aha, Carsten Diepenbrock ist immerhin ehrlich. Die Informationen sind gar nicht alle anonymisiert. Man nennt das Listenprivileg. Sollte ich mal irgendwo in einem Gewinnspiel einen Haken falsch gesetzt haben, steht mein voller Name in einer Datenbank und meine Adresse wird gehandelt.

Ich bin aber vorsichtig. Otto, Neckermann, Schober schreiben mir alle Briefe, in denen sie mitteilen, sie hätten keine Daten von mir. Zwei Firmen, die offenbar etwas mit Krediten zu tun haben, allerdings schon. Acumio finance services gmbh kennt meine Adresse und schätzt meinen SAFE Consumer Score auf 627 Punkte, Klasse 5, also mittel. Ähnlich betrachtet mich Arvato Infoscore. Arvato Infoscore ist eine Bertelsmann-Tochter, die unter anderem Kreditrisikoprüfungen unternimmt. Ohne mein Zahlungsverhalten zu kennen, schätzen sie mich als mittelkreditwürdig ein. Es kommt mir vor wie eine falsche ökonomische Verdächtigung.

Manchmal, wenn wir einen Kredit nicht bekommen, einen Job, wenn wir in ein Land nicht einreisen dürfen, merken wir vielleicht gar nicht, dass es eine Datenentscheidung ist.

Was weiß Acxiom über mich, Herr Diepenbrock?

Carsten Diepenbrock ist aufgeschlossener als Google oder Facebook. Er brauche nur meine Adresse, dann könne er mir ein Mikroprofil schicken.

Mikrotyp Hauseinwertung steht über der ersten Folie, und: Axciom Customer Insights Viewer.

„226 Urban Nonkonform“. Das ist mein Cluster, erst mal nur grob, die 1.000 Haushalte um mich herum.

Aus dem Dossier erfahre ich, wie viel wir etwa verdienen (meist bis 1.000 Euro), dass wir bei Karstadt oder Tengelmann und Kaiser’s einkaufen. Was wir lesen (Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau). Dass wir bei Großbanken Kunden sind. Was wir in der Freizeit machen („Traumurlaub beinhaltet Abenteuer“), Joggen, Kino.

Dann wird es präziser, fünf Haushalte nur noch: Medientyp – Politik. Affinität Onlinebanking. Konsumverhalten. Gesundheit eher nachlässig, aber ängstlich.

Mein Herz schlägt ein wenig schneller, während ich mich durch die Seiten klicke, in meinem Bauch zieht sich etwas zusammen. Es sind nur Zahlen, Schätzungen, aber sie beschreiben mich ziemlich exakt. Meine Acxiom-Akte.

Keine Lebensversicherung, kein Wohneigentum. Homeentertainment. Haben die unsere Wii gesehen?

Wenn ich mir jetzt, fast einen Monat nachdem dieses blasse Gesicht Edward Snowdens auftauchte, überlege, wie sich die Acxiom-Akte mit meinen Facebook-Daten verbinden ließe, spüre ich eine Ohnmacht.

Facebook plus Acxiom – und irgendwann womöglich: plus Arvato. Und immer: plus NSA oder BND.

Was daran das Problem ist? Das Problem ist, dass es zu spät sein könnte, wenn wir es merken.

Sie können fast alles erfahren, wenn sie nur wollen. Und wir werden weiterhin nur ahnen, was sie wissen. Und wem sie etwas sagen – statt uns selbst.

Wir brauchen einen neuen Deal.

Es ist höchste Zeit, die Julie Brills dieser Welt zu unterstützen. Es ist höchste Zeit, digital mündiger zu werden.

Echt, jetzt!

Das ist der Snowden’sche Imperativ.

Johannes Gernert, 33, ist sonntaz-Redakteur. Für sein letztes Online-Experiment inspizierte er seinen Namensvetter: taz.de/gernert