: Der Andere
IDENTITÄT Wie nackt sind wir im Netz? Was lässt sich mithilfe von Google und Facebook über einen Fremden ausgraben? Unser Autor hat es ausprobiert und versucht, einen Menschen zu porträtieren, den er nie getroffen hat: seinen Namensvetter
■ Google: Wer herausfinden will, was der Online-Konzern über einen speichert, sollte sich diese Seite ansehen: http://bit.ly/lc8P7M Das „Google Dashboard“ listet dort alle Google-Dienste auf, die man benutzt, und zeigt, welche Informationen jeweils vorliegen. Beantwortet wird auch: „Wie entferne ich unerwünschte Inhalte?“
■ Facebook: Die neuen Facebook-Profile in der „Chronik“-Version mit Lebenszeitleiste liefern direkt unter dem großen Profilbild das „Aktivitätenprotokoll“. Darüber kann man sich das eigene Profil aus der Sicht von Freunden oder Fremden anzeigen lassen („Anzeigen aus der Sicht von“). In der Privatsphäre-Einstellung lässt sich festlegen, wer was sehen darf.
VON JOHANNES GERNERT
Im Sommer 2009 bringen seine Gasgemisch-Gleichungen Johannes Gernert an den Rand der Rocky Mountains, nach Boulder, Colorado. Etwa 1.000 Kollegen aus der Community der Thermodynamiker haben sich dort an der Universität versammelt, um über Gase und Wasserdampf zu diskutieren. Johannes Gernert trägt ein helles, gebügeltes Hemd und seine Brille mit den runden Gläsern, als er die Gleichungen über verbrannte Gase an die Wand wirft. Rote Punkthäufchen um blaue Achsen.
Im Grunde geht es um den Klimawandel. Er will herausfinden, wie genau Gas sich in einem bestimmten Zustand verhält. Es geht langfristig auch um so umstrittene Dinge wie CCS, Carbon Dioxide Capture and Storage. Wie kann man CO 2 unter der Erde aufbewahren, damit es nicht das Klima verändert? Er arbeitet auch an der Frage, wie man überschüssigen Strom aufhebt, den gerade keiner braucht – in Druckluftspeicherkraftwerken. Johannes Gernert erforscht dafür die Eigenschaften feuchter Luft. Man könnte ihn als einen wissenschaftlichen Mitarbeiter der Energiewende betrachten, preisgekrönt, allerdings manchmal bezuschusst vom Energiedinosaurier Eon.
Er dürfte das nicht als allzu großen Widerspruch wahrnehmen. Johannes Gernert wirkt wie ein pragmatischer Typ. Als die Vorträge an der University of Colorado abends vorbei sind, zieht er Poloshirt und Jeans an. Seine Arbeitskleidung auf den Wasserdampfkonferenzen dieser Welt ist ein schlichter, grauer Anzug.
Vielleicht führt eine Spur von Gas und Wasserdampf zurück in die Waldorfschule, vielleicht ist in ihrem Schulgarten dieses Interesse für die Umwelt gewachsen. Johannes Gernert hat die Rudolf-Steiner-Schule in Bielefeld besucht. Wie mindestens zwei seiner drei Schwestern auch.
Na gut, das mit den Schwestern weiß ich eigentlich gar nicht so genau.
Es ist nämlich so: Ich kenne Johannes Gernert nicht. Ich bin Johannes Gernert, 31 Jahre alt, sonntaz-Redakteur. Er ist Johannes Gernert, 31 Jahre alt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Thermodynamik der Ruhr-Universität-Bochum. Johannes Gernert, der andere. Wir sind gleich alt. Wir tragen denselben Namen. Wir sind uns noch nie begegnet.
Die Konstellation eignet sich für ein Experiment: Kann ich über das Internet herausbekommen, was für ein Mensch Johannes Gernert ist? Ist es möglich, einen Fremden zu porträtieren, wenn man nur Informationen verwendet, die über Google, Facebook und andere Seiten zu finden sind?
Diese Fragen sind bedeutsam geworden in einer Welt, in der der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt – angeblich im Spaß – vorgeschlagen hat, man solle als Erwachsener den Namen ändern, damit der Online-Unfug aus Kindheit und Jugend nicht lebenslänglich an einem haftet. Eine Welt, in der Wissenschaftler über ein Verfallsdatum für Internetinhalte nachdenken und Journalisten vor Arbeitgebern warnen, die nach Suff-Fotos auf Facebook suchen.
Ende 2011 sitzt die Redaktion um den Konferenztisch im obersten Stockwerk des taz-Gebäudes, unten rauscht der Verkehr über die Rudi-Dutschke-Straße, und meine Kolleginnen stellen die zwei Grundregeln für dieses Rechercheprojekt auf: kein Telefon, nicht rausgehen zum Recherchieren. Mein einziges Arbeitswerkzeug ist ein Computer mit Internetverbindung.
Johannes Gernert begleitet mich schon seit einigen Jahren. Grau gestreiftes Hemd, die Haare leicht gegelt, der Blick etwas schräg nach rechts oben. Sein Bild erscheint immer, wenn ich das Suchwort „Johannes Gernert“ eingebe. Google zeigt mir fünf blaue Links und dann eine Bildleiste. Da erscheint das Foto einer Frau namens Eva Schulz. Ihr Bild illustriert einen Text, in dem auch mein Name steht. Daneben eins von mir. Und dieses Foto von ihm.
Es ist die einzige Spur des anderen Johannes Gernert auf der ersten Seite mit Google-Treffern. Die anderen Links habe ich im Laufe der Jahre auf die zweite Trefferseite verdrängt, mit meinen Artikeln, die Google höher platziert. Ich habe die Links zum anderen Johannes Gernert weggeschrieben. Es kann aber auch sein, dass die Algorithmen des Konzerns sich nach mehrjährigem Ego-Googeln gemerkt haben, dass ich mich vor allem für mich selbst interessiere. Sie registrieren, was von meiner IP-Adresse, meiner Rechneranschrift, aus alles gesucht wird. Ich muss die Suchmaschine jetzt umerziehen, wenn ich die Online-Identität des anderen Johannes Gernert erkunden will. Aber wie?
Ich tippe: „Johannes Gernert“ und „Bochum“, weil der Name der Stadt unter dem Foto auf der Bilderleiste stand. Ich sehe, dass er an der Universität Bochum arbeitet. Ich stoße auf sein Profil im Jobnetzwerk Linkedin. Ich melde mich beim Jobnetzwerk Xing an und gebe unseren Namen ein. Ich sehe: Ruhr-Universität-Bochum. Und: Universität Paderborn. Da hat Johannes Gernert Maschinenbau studiert. Interessen: „Erneuerbare Energien, Volleyball, Fitness, Musik“.
Welche Art Fitness? Was für Musik?
Es ist ein wenig, als wären Xing und Linkedin stoffelige Teenager, die nur ja oder nein sagen oder noch lieber gar nichts. Ich tippe den Namen als eine Frage in den Suchmaschinenschlitz ein, und als Antwort erhalte ich Standardlebensläufe mit Angaben, die ich schon habe. Alter, Ausbildung, Beruf. Johannes Gernert scheint ein vorsichtiger Mensch zu sein. Er verrät kaum mehr als das Nötigste.
Aber es gibt ja noch Facebook, die Intimsuchmaschine.
Auf den ersten Klick kennt Facebook nur mich. Noch viel stärker als Google konstruieren die Algorithmen des Freundesnetzwerks offenbar kleine Online-Kosmen. Sie analysieren, was du liest, wen du magst, was dir gefällt, Klick für Klick, und setzen dir etwas vor, von dem sie denken, dass du es suchst, weil es dem ähnelt, was du sonst so suchst. Ich muss drei, vier, fünf Mal meinen Namen eingeben, bis die ersten anderen Johannes Gernerts auftauchen. Einer lächelt breit und irgendwie amerikanisch. Ein anderer ist eine Art Profilleiche ohne Foto. Keiner der beiden arbeitet an der Ruhr-Universität-Bochum. Bei wer-kennt-wen.de gibt es einen Johannes Gernert, der sich vor einigen Jahren angemeldet hat, ohne irgendwelche Informationen anzugeben. Das war wohl ich.
Ich bin enttäuscht. Predigen Datenschützer nicht ständig, dass wir im Netz alle halbnackt dastehen, wenn wir nicht wie die Höllenhunde aufpassen? Ist das schon das ganze Geheimnis dieses Johannes Gernert? Er ist ein Netzskeptiker, der mir die Recherche unnötig schwer macht.
Durch den Suchschlitz von Google betrachtet, scheint es eine wesentliche Konstante in Johannes Gernerts Leben zu geben. Thermodynamik. Arbeit. Ich tippe: „Johannes Gernert“ und site:www.thermo.rub.de. Das ist ein Suchbefehl: Finde auf dieser Seite „Johannes Gernert“. Es ist die Seite seines Fachbereichs an der Uni Bochum.
Und plötzlich sind da Baden und Berlin, Kopenhagen und Stockholm, Peking und die Stadt Boulder, die ich für den Anfang dieses Textes verwenden konnte. Dank der Fotos, die Johannes Gernert und seine Kollegen gepostet haben. Er hängt mit Kollegen in der dänischen Hauptstadt am Wasser ab, er spaßringt mit amerikanischen Wissenschaftlern. Er präsentiert Poster, hält Vorträge.
Die Reiseaktivitäten der Forscher sind unter „Chronik“ mit kleinen Bildprotokollen im Internetauftritt der Thermodynamiker gut dokumentiert.
Aber da muss doch noch mehr sein.
Wild kombiniere ich bei Google „Johannes Gernert“ mit Namen von seinen Kollegen, mit Bielefeld, Bochum, Paderborn. Dann fällt mir ein Link zu stayfriends.de auf. Kann es sein, dass ein Mensch, der weder bei Facebook noch bei wer-kennt-wen.de noch bei StudiVZ ein Profil hat, bei diesem seltsamen Freundefindzirkel angemeldet ist, der alte Schulkameradinnen versammeln will und seine Adresse großflächig in jede Google-Suche hineinsprenkelt?
Tatsächlich. Auf stayfriends.de steht sogar eine Handynummer. Und noch etwas viel Wertvolleres: der Name, der es mir ermöglicht, ein paar persönliche Absätze in das Porträt zu schreiben. Arunothai.
Weiter im Text: In Johannes Gernerts Familie scheinen fast alle von der Waldorfpädagogik überzeugt. Seine Schwester, die Ärztin, engagiert sich in einem Waldorfkindergarten. Und Arunothai arbeitet neuerdings auch in einem. Arunothai Chaichuay Gernert: Johannes Gernerts Frau, die aus Thailand stammt und dort an der Chulalongkorn-Universität studiert hat. Mit der er den Eiffelturm besucht hat in Paris, im Sommer 2010, mit der er den Thai-Massage-Salon eröffnet hat in Halle, Westfalen, ein Jahr später, mit der er sich manchmal in traditionell-thailändischen, goldgelben Anzügen zeigt – so dass sie aussehen wie ein Königspaar aus dem Märchen.
Als sie den Massagesalon in Halle eröffnet haben mit den betenden Metallstatuen im Schaufenster, ein Mönch in orangeroter Kutte war gekommen, es gab einen Altar mit bauchigen silbernen Töpfen darauf, sie saßen alle auf dem dunklen Parkettboden, da ging Johannes Gernert irgendwann raus und ruhte sich mit seinem vollen Pappteller ein wenig vor der Tür aus. Es war alles nicht unanstrengend. Aber dann standen sie beide vor dem Salon mit dem hölzernen Wan-Chai-Schild und fühlten sich glücklich.
Na ja, zumindest sahen sie so aus.
Ich habe mir das alles ja nur bei Facebook angesehen, als ich über Stayfriends den Namen von Johannes Gernerts Frau entdeckt hatte und sie mich dann als Facebook-Freund akzeptierte. Die Neueröffnung des Salons war am 11. Mai, meinem Geburtstag.
Johannes Gernert, der andere, ist im Oktober geboren. Ich weiß nicht genau, was aus dem Massagesalon geworden ist und warum Arunothai Gernert dann offensichtlich anfing, im Waldorfkindergarten zu arbeiten. Auch Facebookfotos hinterlassen Informationslücken. Ich schreibe weiter:
Im Sommer sitzen Johannes Gernert und seine Frau zu Hause im Garten, seinen kleinen Neffen Elias hat er auf dem Arm.
Jetzt weiß ich natürlich schon wieder nicht genau: Ist das sein Garten oder der seiner Eltern in Bielefeld? Ich habe mittlerweile nach einigem Kreuz-und-quer-Googeln herausgefunden, wie seine Eltern mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit heißen (Antroposophische Gesellschaft Hannover!). Ich bin auch mit der Kamera von Google Street View an den Ort gefahren, wo sie wohnen, in die Neubausiedlung, vorbei an Hecken und Nadelbäumen, die ganz ähnlich aussehen wie die Hecken und Nadelbäume auf dem Facebook-Foto mit dem Neffen Elias.
Und ich muss an der Stelle gestehen, dass ich beim Katasteramt angerufen habe, beim Amt, das alle Grundstücke verzeichnet, um sicherzugehen, dass die beiden Menschen, die wahrscheinlich seine Eltern sind, dort tatsächlich wohnen. Ich hatte vorher schon einmal gegen meine Recherchegrundregeln verstoßen müssen. Das eine hat mit unserem Justitiar zu tun, das andere mit einem Informatikprofessor namens Speck.
Unser Justitiar stellte während meiner Recherchen fest, dass ich nicht einfach so über Johannes Gernert, den anderen, schreiben darf. Auch wenn das alles im Netz stehe: Die Informationen auf einer Zeitungsseite gebündelt zu präsentieren, habe eine andere Qualität. Wenn es dann auch noch die Privatsphäre berühre … Jemand müsse ihn um Erlaubnis fragen. Wir beschlossen, dass es wohl am besten ist, wenn ich selbst das tue. Ich rief also bei Johannes Gernert an. „Johannes Gernert, Ruhr-Universität-Bochum“. „Johannes Gernert hier, taz.die tageszeitung.“ Ein leises Lachen. „Kein Witz“, sage ich. Weiß er, dass es mich gibt? „Ja, gelegentlich googelt man ja mal nach sich selbst, da fällt das dann schon auf.“
Ich erkläre ihm kurz, was ich vorhabe. Er macht mit. Ich bin erleichtert. Wir müssen aufhören, sage ich. Die Kolleginnen. Nur Netzrecherchen sind erlaubt.
Ich spreche dann auch mit Hendrik Speck, der Informatikprofessor ist und unsere Regeln für bescheuert hält. Kein Telefon, was für ein Quatsch!
Eigentlich will ich von ihm wissen, ob ich mit technischen Mitteln noch mehr über Johannes Gernert herausfinden kann. Ein Foto liefert ja in der Regel auch Informationen über den Ort, an dem es gemacht wurde. Ich könnte so also über die Facebook-Fotos aus dem Garten feststellen, ob Johannes Gernert und sein Neffe bei seinen Eltern waren. Aber Facebook macht die Informationen nicht zugänglich. Solche Dinge soll mir Hendrik Speck erklären.
Er rüffelt mich: „Sie agieren wie ein Einbrecher, der sagt, ich breche nicht in rote Fenster ein. Das widerspricht der Logik der Sache.“ Ich wolle doch wohl zeigen, wie verletzlich das Internet macht, wie angreifbar der Einzelne wird. Eine Tatsache, die die Gesellschaft bisher weitgehend ignoriere. Warum erlege ich mir dann künstliche Grenzen auf und telefoniere nicht mal? „Es ist momentan eine Übergangsperiode“, sagt Hendrik Speck. „Wir leben noch mit den alten Verfahren, versuchen uns aber den neuen anzunähern. Wir versuchen, alles zu digitalisieren, zugänglich zu machen.“ Das heißt: Irgendwann stehen die Daten des Katasteramts sowieso im Netz, warum soll ich jetzt nicht schon so tun, als wären wir so weit?
Für einen Moment hat er mich überzeugt und ich breche die Regeln. Das war der Anruf beim Katasteramt.
Jetzt kenne ich sogar Johannes Gernerts Frau, aber das alles kommt mir immer noch so wenig vor. Mein Porträt ist eine Eckdatensammlung mit eingestreuten Schnappschüssen. Ich betrachte die breiten Oberarme von Johannes Gernert. Was heißt Fitness? Wo spielt er Volleyball, mit wem? Wer sind seine Freunde? Wie redet er mit ihnen? Ist Frederik Landwehr, der Musikmanager aus der Waldorf-Klasse (Stayfriends!), so was wie sein bester Freund aus Schulzeiten? Keine Ahnung, Frederik Landwehr beantwortet meine Facebookanfrage nicht.
Man könnte ein falsches Profil anlegen, rät Hendrik Speck, der Informatikprofessor, mit einem Namen aus der ehemaligen Schulklasse. Bei Johannes Gernert wäre das beispielsweise Holger Wittmann. Würde ich ungefähr so aussehen wie Holger Wittmann, könnte Frederik Landwehr denken, dass ich es bin, und meine Freundschaftsanfrage akzeptieren. Dann könnte ich feststellen, ob in seinen Facebook-Fotoalben Bilder von Johannes Gernert liegen. Noch wahrscheinlicher würde das, wenn ich vorher ein paar Freunde aus dem Facebook-Umfeld von Frederik Landwehr akquiriert hätte. Erst sich mit den Freunden der Zielperson befreunden, dann sich der Zielperson nähern, empfiehlt Hendrik Speck.
Ich probiere, mich auf Xing mit einer falschen Identität an Frederik Landwehr heranzupirschen. Nichts passiert.
Langsam werde ich ungeduldig. Könnte ich mich nicht einfach in das Handy von Johannes Gernert hacken? Dann wüsste ich, wie seine SMS klingen. Alles illegal, sagt Speck, da solle ich mich lieber an russische Hacker-Banden wenden.
Während ich via Google Street View vor einer Garageneinfahrt in der Straße mit dem Blumennamen auf und ab patrouilliere, denke ich darüber nach, ob Johannes Gernert hier aufgewachsen ist. Hat sein Vater nach dem Abendessen in den Garten gepinkelt, so wie ich das mal von anderen Waldorfeltern gehört habe? Toilettenspülwasser sparen. Haben sie hausmusiziert, seine Schwester am Klavier? Haben sie oft gestritten? Welche Hausschuhe hatte er an? Birkenstock? Nirvana-Poster an der Zimmerwand? Guns N’ Roses?
Facebook wüsste vielleicht die eine oder andere Antwort. Aber es gibt diesen Johannes Gernert nicht auf Facebook.
Seine Familie stammt eigentlich aus Reutlingen. Das habe ich mir zusammengegoogelt, mindestens zwei seiner Schwestern sind dort geboren. Er hat drei. Hätte ich mich allein auf Google verlassen müssen, wäre ich wohl davon ausgegangen, dass Johannes Gernert nur zwei Schwestern hat. Aber eine dritte, Solveig, hat mich vor etlichen Jahren angeschrieben, weil sie lustig fand, dass ich so heiße wie ihr Bruder. Wir unterhielten uns per Mail, Betreff: „Doppelgänger“. „ist erstaunlich, wie viel google einem verrät“, schrieb ich ihr am 8. April 2006.
Irgendwie habe ich nach dieser Recherche einen anderen Eindruck, obwohl ich vor zehn Jahren viel weniger Lebensdaten und vermutlich kaum Fotos über Johannes Gernert, den anderen, gefunden hätte. Vielleicht ist mit der Zahl der Facebook-Nutzer auch das Gefühl von Selbstverständlichkeit einer gewissen Transparenz gegenüber gewachsen. Vielleicht erwarte ich, dass da etwas Spannendes existieren muss, etwas Intimes, weil so viele Selbstporträts und Twitter-Entblößungen und Kommentar-Entblödungen durchs Internet schwirren.
„Jeder hat seine kleine Leiche im Keller“, sagt Hendrik Speck.
Nur bei Datenknauserern wie Johannes Gernert, dem anderen, entdeckt sie keiner.
Sicher: Kleine Gucklöcher gibt es mittlerweile fast überall. Das zeigt meine Freundschaft mit seiner Frau. Andererseits: Sie hätte die Anfrage ignorieren können. Wie Frederik Landwehr. Man kann Online-Türen schließen. „Frederik teilt nur einige Informationen öffentlich“, heißt es auf seiner Facebook-Seite. Wenn Hendrik Speck, der Professor, recht behält, werden die Gucklöcher aber immer größer, je mehr Zeit wir alle online verbringen.
Man ist so verletzlich wie die Angehörigen mit dem größten Guckloch.
Was wäre, wenn Johannes Gernert ein Kind hätte? Mit freimütigem Facebook-Profil.
Ah, jetzt hat Frederik Landwehr die Anfrage doch angenommen. Bilder vom Urlaub in den USA mit Bruder Arne und Eltern. Wüstenrote Canyons, Erdhörnchen, Blueberry-Pancakes. Kein Johannes Gernert.
Noch ein Versuch: Ich nehme ein Bild von der Uni-Seite und lade es in eine Gesichtssuchmaschine namens pictriev.com hoch. Lagern doch irgendwo versteckte Bilder, in einem Datingportal? Die Maschine sagt, dass Johannes Gernert Mitte dreißig ist. Keine neuen Fotos.
Ich fahre mit Google Street View um die grauen Blöcke der Ruhr-Universität, an Johannes Gernerts Büro vorbei, wo er im Raum IB 5/35 sitzt. Mit der blonden Alexandra Kowalczyk, die freundlich lächelt und mal Badminton im Verein gespielt hat, wenn mich Google nicht täuscht.
Weiß ich jetzt erschreckend viel über ihn oder erstaunlich wenig? Ruhr-Uni-Bochum, Maschinenbau in Paderborn, Eiffelturm mit Arunothai in Paris. Zielstrebiger Forscher, lieber Mann, fürsorglicher Onkel.
Es bleibt die Frage: Was ist das für ein Typ?
Wie könnte ein Titel für sein Porträt klingen? Der Nüchterne? Der Vorsichtige? Solange ich Xing-Foren zu Thailand durchkämme, in denen er angemeldet ist, solange ich andere Gruppen nach einem Satz von ihm durchsuche, nach seiner Schreibpersönlichkeit: Ich finde nichts.
Der Johannes Gernert, den ich jetzt kenne, ist ein stummes Bild mit einem freundlichem Lächeln, sportlichen Oberarmen und einem umfangreichen Gas-Forschungsprojekt.
Drei, vier Porträtabsätze. Mehr nicht. Seiner Frau fühle ich mich wesentlich näher. Weil sie postet, fotografiert, nach Rom fliegt, nach Paris, ihre Tickets herzeigt. Selbst die geschwungenen thailändischen Zeichen erzählen mir mehr als Johannes Gernerts gesammeltes Community-Schweigen, wenn ich sie bei Google Translator einspeise.
Einige Wochen nach meinem Freundschaftsantrag meldet sich Solveig Gernert über Facebook: „mein bruder hat mir von eurem internet-spionage-projekt erzählt :-) wie ich sehe, bist du auch schon mit seiner frau befreundet, also wahrscheinlich schon besser mit infos versorgt, als du es über mich sein wirst. aber wer weiß …“
Ich weiß nicht.
■ Johannes Gernert ist sonntaz-Redakteur. Näheres über ihn erfahren Sie auf der nächsten Seite, wo sein Namensvetter berichtet, was er im Netz über ihn gefunden hat