: Gegen die Öffentlichkeit
STUTTGART 21 Die Wut der Bürger trifft auch die Medien vor Ort. Sie werden als Erfüllungsgehilfen der Politik gesehen. Die Folge: Abokündigungen und alternative Neugründungen
■ Stuttgarter Zeitung: Die Auflage sackte seit Juni 2008 von 151.000 auf 138.000, darunter sind etwa 12.000 nicht erlösträchtige Exemplare. Am Kiosk hat die StZ vor etwas mehr als zwei Jahren noch 13.000 Exemplare verkauft, heute sind es 8.742. Trotz des einzigartigen Themas „Stuttgart 21“ hat man in diesem Jahr im Einzelverkauf bis Ende September noch mal 10 Prozent verloren.
■ Stuttgarter Nachrichten: Sie verloren im selben Zeitraum über 6.000 Käufer und liegen jetzt bei 62.000. Zudem liefern sie den Mantel für 20 Partnerverlage und täglich etwa 300.000 Exemplare.
■ Zielgruppen: Die Südwestdeutsche Medienholding (SWMH) will mit der StZ das urbane, liberale Baden-Württemberg abbilden und erreichen, mit den StN die konservative Landbevölkerung. (pu)
AUS STUTTGART PETER UNFRIED
In Stuttgart reicht in diesen Tagen ein Satz. Bum. Schon explodiert etwas. Eine Lebensfreundschaft, eine geschäftliche Verbindung, eine langjährige Loyalität. Stuttgart ist trotz Geißlers Schlichterspruch oder erst recht voller Wut und Misstrauen. Der gesellschaftliche Großkonflikt um das Verkehrs- und Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 wirbelt die Hauptstadt von Baden-Württemberg schicksalhaft durcheinander. Doch wo etwas zu Ende geht, kann auch Neues entstehen. So gesehen ist Stuttgart die aufregendste Baustelle der Republik.
Da müsste doch eine Sternstunde für uns Medien angebrochen sein, diesen Großkonflikt und all die Häutungen journalistisch zu begleiten. Den Verkäufern vor Ort müssten die druckfrischen Zeitungen nur so aus der Hand gerissen werden.
Das Gegenteil ist der Fall. Abos werden gekündigt, der Kioskverkauf hängt durch, Leute wenden sich von ihren Zeitungen ab. Ihre Wut richtet sich nicht nur gegen Wirtschaft und Politik, sondern auch gegen die führenden Medien der Stadt, den SWR und die beiden zur Südwestdeutschen Medienholding (SWMH) gehörenden Blätter Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten. Sie sollen auch zu jenem Klüngel gehören, den man verdächtigt, die Projekte einer oligarchisch agierenden Mauschelclique voranzutreiben. „Scheißlügenblätter“ nennen Exleser sie. Von Bild Stuttgart (verkaufte Auflage: 97.000) ist übrigens kaum die Rede. Offenbar stellt man da die entsprechenden Ansprüche gar nicht erst.
Die größten Emotionen bekommt die Stuttgarter Zeitung (StZ) ab – wohl weil man von ihr als selbst erklärtem Flaggschiff eines aufgeklärten, liberalen, baden-württembergischen Bürgertums am meisten erwartet. Im Zeitungskopf hat sie in goldenen Buchstaben ihren Anspruch formuliert: „Unabhängige Tageszeitung für Baden-Württemberg“.
Für ihre Kritiker klingt das wie Hohn. Sie nennen sie das „Zentralorgan des Mappus-Regimes“ und rufen zu Massenkündigungen auf. Ihr Vorwurf: langjährige, einseitige Berichterstattung zugunsten des Bahnprojekts, der angeschlossenen Wirtschaft sowie der Regierung von Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) und fast keine Problematisierung. „Es ist bei uns bald wie im Iran“, seufzt eine StZ-Kündigerin, „dass man sich aus dem Internet informieren muss.“ Eine andere fürchtet, dass die Telefonleitung abgehört werden könnte.
Ressource Vertrauen
Der Ton ist rau – auch gegenüber den Politikern, dem „Lügenpack“. Was wiederum eine Reaktion auf die diesen unterstellte Verachtung ihnen, den Stuttgartern, gegenüber ist. Wenn Vertrauen zu einer knappen Ressource geworden ist, wie der Philosoph Peter Sloterdijk vermutet, so trifft das offenbar auch auf die Beziehung zwischen Teilen der Zeitung lesenden Bürger und ihren Medien zu.
Eine Stichprobe: Sylvia Heimsch, 47, Architektin, hatte die StZ 20 Jahre abonniert. Seit sie sich im Aktionsbündnis gegen S 21 engagiert, wurde ihr die Zeitung immer fremder. Sie fühlt sich von ihr und auch vom SWR „komplett im Stich gelassen“. Sie kündigte. Liest jetzt FR. Und hat einen Google-Alert für Stuttgart 21, da käme täglich so viel, dass sie gar nicht mehr nachkomme. Carsten Bisanz, 40, ist Ingenieur und bei den S-21-Gegnern der Parkschützer aktiv. Auch er las die StZ seit zwei Jahrzehnten. Der Schritt fiel ihm schwer. Doch sein Ärger wurde irgendwann zu groß, er nennt: fehlende Recherche, fehlende Inhalte, dafür tendenziöse Begrifflichkeiten. Ines Exler, 57, ist Beamtin. Bei ihr war das Maß voll, als sich die StZ in einem Kommentar des stellvertretenden Chefredakteurs Michael Maurer am 1. September ausdrücklich zu Stuttgart 21 bekannte. „Dass Sie sich offen zu Ihrer Befangenheit bekennen, zeigt die dreiste Verdummung und Korruption in diesem Bundesland“, schrieb sie. Sie liest jetzt im Internet und kauft den Stern. Statt angesichts der extremen Polarisierung die Mediation zu übernehmen, hat die Zeitung aus Sicht der Kündiger insistiert, dass nicht heute falsch sein könne, was früher richtig schien. Und damit den S-21-Gegnern genauso „den Fehdehandschuh“ zugeworfen wie davor Ministerpräsident Mappus.
Andere Kündiger argumentieren ähnlich, alle kennen Leute, die auch gekündigt haben. Und noch viele mehr, die „eigentlich kündigen würden, aber …“ Aber was soll man sonst lesen, wo selbst die Süddeutsche zum selben Verlag gehört?
Das Pressehaus liegt außerhalb des Stuttgarter Kessels, im Stadtteil Möhringen, in der Nähe des Flughafens. Im dritten Stock sind die Nachrichten, im zweiten ist die Stuttgarter Zeitung untergebracht. Dort empfängt Chefredakteur Joachim Dorfs. Der erste Mann der StZ könnte der wichtigste Journalist der Stadt sein.
Danke für den Termin, Herr Dorfs.
Im Gegenteil. Er freue sich, wenn man auch mit ihm spreche, bevor man was schreibe.
Die Annahme, die Leser kündigten in Massen?
Massen bestätigt er nicht. Inzwischen hätten beide Zeitungen das Problem, dass jede Seite argwöhne, die jeweils andere werde bevorzugt. Man habe insgesamt 450 Kündigungen wegen der Stuttgart-21-Berichterstattung. Von Gegnern wie von Befürwortern. Im Haus wird geraunt, allein an einem Tag habe es 100 Kündigungen gegeben.
Spürt er einen Vertrauensverlust?
„STZ“-CHEFREDAKTEUR JOACHIM DORFS
„Es gibt einen allgemeinen Vertrauensverlust in politisch und wirtschaftlich Handelnde, offensichtlich werden die Medien auch als Teil dieses Systems wahrgenommen“, sagt Dorfs.
Verdacht auf Manipulation
Als Indiz dafür sieht er den Verdacht, der Ministerpräsident würde über die Baden-Württembergische Landesbank (LBBW), an der Land und Stadt Anteile haben, Einfluss auf deren Schuldner, den SWMH-Geschäftsführer Rebmann, nehmen – und der über die Chefredakteure auf die Berichterstattung. „Quatsch. Es hat nie eine Anweisung von Herrn Rebmann gegeben, pro Stuttgart 21 zu berichten. Es gab auch keine Order von mir an die Leute, die mit der Berichterstattung betraut wurden“, sagt Dorfs. „Wir haben uns nach bestem Wissen und nach Kräften bemüht, dieses Projekt in seinen Vor- und Nachteilen darzustellen.“
Wenn man das den Kündigern erzählt, lachen sie bitter.
In Dorfs’ Redaktion nimmt man das auch anders wahr. Unlängst wurde in der Konferenz über Eingriffe der Chefredaktion geklagt. Dorfs sagt, man habe sorgfältig recherchiert, nichts unterdrückt und sei auch nicht umgeschwenkt nach dem 30. September, wie S-21-Gegner positiv bemerkt haben wollen. Allenfalls sei man zu lange in der „Tagesberichterstattung verharrt“.
Dorfs, 46, war früher Wirtschaftsjournalist beim Handelsblatt in Düsseldorf. Er ist seit Anfang 2008 in Stuttgart, genauso lang wie der Geschäftsführer Richard Rebmann. Im „Weinberghäuschen“ der regionalen Industrie- und Handelskammer, wo die sogenannte Baden-Württemberg-AG inklusive Chefredakteuren Stuttgart 21 beschlossen haben soll und auch sonst ihre politisch-wirtschaftlichen Projekte vorantreibe, sei er zwei-, maximal dreimal gewesen. Da sei kein Mappus weit und breit gewesen und nach seiner Erinnerung auch keiner seiner Vorgänger. Dass da die Zukunft der Region entschieden werde, würde er „massiv anzweifeln“. Früher vielleicht. Aber was früher war, sagt Dorfs, kenne er auch nur aus Erzählungen.
Das mit dem Weinberghäuschen sei „totaler Quatsch“, sagt Uwe Vorkötter. Er war von 1995 bis 2001 Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung und leitet heute die Berliner Zeitung. Früher gab es „einen Zeitgeist, der eine breite Zustimmung zu Stuttgart 21 nahegelegt hat“. Damals schien ihm das Projekt „eine große Sache für Stuttgart zu sein“. Heute sieht er die damalige Eindeutigkeit in Haltung und Kommentierung als Fehler: „Ich würde es nicht mehr so machen.“ Man müsse als Zeitung „kritischer gegenüber dem Zeitgeist sein“ und „bei einem so großen Projekt eher und sensibler die kritischen Fragen stellen.“
Sein damaliger Außenpolitikchef Adrian Zielcke hat in einer Bilanz seines Berufslebens den Satz geschrieben: „Ohne die Zustimmung der Stuttgarter Zeitung zu diesem Großprojekt würde, so vermute ich einfach einmal, ‚Stuttgart 21‘ nie gebaut werden.“ Dazu steht er nach wie vor. Aber gleich danach – und nie zitiert – habe er in dem Stück auf Widerstand im Feuilleton („Rettet den Bonatz-Bau“) verwiesen. Was er habe sagen wollen: Die StZ sei als führende Zeitung Baden-Württembergs mächtig, aber sie sei auch vielstimmig.
Eine Verschwörung? Ach, was.
Die meisten Abokündiger gehen indes davon aus, dass es Anweisungen von ganz oben für eine S-21-freundliche Berichterstattung gegeben hätte und dass der Großkredit von 400 Millionen Euro etwas damit zu tun habe, den die Landesbank Rebmann und der SWMH bewilligte, als die 2008 Geld zum Kauf der Süddeutschen Zeitung brauchte.
Belege? Ach, das sei doch offensichtlich.
Seit dem prestigeträchtigen, aber über 700 Millionen Euro teuren Kauf ist die SWMH die größte Abozeitungsgruppe Deutschlands – mit über 2 Millionen Exemplaren täglich. Ihr gehören ganz oder anteilig zwölf Tageszeitungen mit etwa 130 Regionalausgaben. Hauptgesellschafter sind die Gruppe Württembergischer Verleger und die Medien Union des Pfälzers Dieter Schaub und seiner Söhne. Rebmann, 52, gilt als ihr „Sparkommissar.“ Er hat den Schwarzwälder Boten in den Großkonzern eingebracht.
Wolfgang Molitor, 55, ist Interims-Chefredakteur der Stuttgarter Nachrichten, seit der von Rebmann eingestellte Vorgänger Christoph Grote das Pressehaus Ende Juli auch schon wieder verließ. Mutmaßlich auf Eigeninitiative. Dafür spricht der Satz, der von ihm blieb. „Das mache ich Ihnen billiger“, soll er zu Rebmann gesagt haben. So einen entlässt ein Sparkommissar nicht.
Nachlassverwalter Molitor ist Westfale und redet angenehmerweise nicht in der üblichen Kunstsprache der Content-Manager. Das glaube zwar keiner, sagt er, „aber wir haben hier keinen Einfluss aus Wirtschaft, Politik oder Verlegerkreisen, absolut nicht.“ Was ihn „am meisten schmerzt: der Vorwurf, wir seien nicht objektiv“.
Molitor hat 98 Kündigungen wegen S 21 gezählt. Jede beantwortet er persönlich. 20 Abonnenten habe er so zurückgeholt. Friedhelm Grimm nicht. Der hatte wegen „tendenziöser Kommentare“ gekündigt, vor allem von Molitor. Dessen Brief, sagt Grimm, habe ihn „erst richtig bestätigt, dass ich mit der Kündigung vollkommen richtig lag“.
Die Nachrichten wurden bis Ende 2007 28 Jahre lang von Jürgen Offenbach dominiert, einem lautstarken, topvernetzten Verfechter von Stuttgart 21. Heute ist er Kommunikationsberater und nennt sich einen „Lotsen“, der „Brücken zwischen Wirtschaft und Politik“ zu bauen verstehe. Fast alle Ressortleiter im dritten Stock hat noch er eingestellt. „Hier must du keinen auf seine Meinung trimmen“, sagt Molitor. Genau das hört man auch von Kritikern aus dem Bauch des Pressehauses, und genau das ist für sie das Problem: Zumindest die Journalisten der Nachrichten habe man gar nicht anweisen müssen; die meisten hätten sich selbst dem Projekt verpflichtet. Sie halten es für eine Modernisierung der Stadt.
Die vielen Wut- und Enttäuschungskündigungen tun den beiden Zeitungen weh. Die Gesamtzahl der verlorenen Käufer zwischen Juni 2008 und September 2010 beträgt 19.000. Ein massiver Rückgang. Einen Zusammenhang mit dem Beginn der Regentschaft Rebmanns sieht Wolfgang Molitor nicht. In seiner Redaktion seien sogar Stellen dazugekommen. Stimmt: Es sind die Stellen, die übrig blieben, nachdem Rebmann die angesehene Sonntagszeitung Sonntag aktuell entkernte und an die Nachrichten angliederte.
Verlust an Substanz
Einem großen Relaunch der Stuttgarter Zeitung Mitte 2009 folgte eine Auszeichnung als „am besten gestaltete Regionalzeitung Europas“, aber auch große Irritation in Teilen der Leserschaft. Mit der neuen Optik sank der Textanteil deutlich, dafür stieg der Preis in zwei Jahren um 22 Prozent. Die Einrichtung eines Newsrooms beschäftigte die Redaktion monatelang. Dazu kamen Einsparungen von der eigenen Kantine bis zum Chefreporter. Insgesamt sind seit Rebmanns Ankunft im 9. Stock des Pressehauses etwa 300 Arbeitsplätze vernichtet worden. Fast das ganze Führungspersonal wurde seither ausgetauscht, teilweise „in Handschellen abgeführt“, wie ein Insider sagt. Das hat eine Menge an Abfindungen gekostet. An Substanz auch, sagen viele.
Und dann kam Stuttgart 21.
StZ-Chef Dorfs hat inzwischen drei Leserkonferenzen im Pressehaus veranstaltet und versucht den Status der Onlineausgabe als „Diskussionsplattform“ für beide Bahnhofsfraktionen zu betonen, um Boden zurückzugewinnen. Krisenmanagement? „Das hat so angefangen, ja“, sagt er, aber es entwickele sich gut. „Das ist das Positivste, was man dem Ganzen abgewinnen kann, dass wir jetzt, gezwungenermaßen, wenn Sie so wollen, einen engeren Draht zu unseren Lesern haben.“ Online habe man derzeit stark steigende Zugriffszahlen. Seine Lektion: „Man muss das Ohr besser an die Leute kriegen.“
Das gelingt auch den Kritikern zufolge nun besser, im Gegensatz zu den unbelehrbaren StN. Für den ehemaligen WDR-Intendanten Fritz Pleitgen gehört das Thema zu den drei größten journalistischen Versäumnissen neben der Weltfinanzkrise und der Duisburger Loveparade-Katastrophe. Stuttgart 21, sagt er, sei „journalistisches Totalversagen“. All die relevanten Dinge, von denen man heute wisse, „sind jahrelang an der Öffentlichkeit vorbeigegangen, ohne dass da nachgebohrt wurde“. Darüber hinaus kann es auch Ausdruck eines grundsätzlichen Problems sein, neben der Veränderung der Alltags- und Lesekultur durch die Digitalisierung und der Frage, wie man Journalismus jenseits von bedrucktem Papier verkauft: dass Bürger sich nicht nur von ihren Politikern, sondern auch von ihren Medien nicht mehr vertreten fühlen und glauben, dass die längst nur noch die herrschenden Verhältnisse vertreten. Dass sie sich abwenden. Oder sich eigene Medien schaffen. Das Stadtmagazin Lift war gerade mit einer großen S-21-Mediengeschichte auf dem Markt. „Wir werden schon verstärkt als Darsteller einer alternativen Realität wahrgenommen“, sagt Chefredakteur Ingmar Volkmann.
Die Auflage indes steigt weder, noch sinkt sie. Längst gibt es Blogs, Foren und Plattformen wie Kopfbahnhof-21.de, das ist das Medium des „Aktionsbündnisses“ gegen S 21. Parkschuetzer.de und bei-abriss-aufstand.de sind weitere Gegnerplattformen.
Neue Hoffnungsträger
Außerdem versuchen zwei Neugründungen, den SWMH-Medien etwas entgegenzustellen. Wegen diagnostizierten Vertrauensverlusts wurde im August nach dem Abriss des Bahnhofsnordflügels Fluegel.tv gegründet von medienkompetenten Leuten, um „so objektiv wie möglich“ über S 21 zu berichten: „Von Bürgern zu Bürgern“. Fluegel.tv übertrug regelmäßig die Schlichtung im Rathaus live im Internet.
Thorsten Puttenat moderiert dort die wöchentliche Diskussion „Auf den Sack“. Die Zeit ändere sich ja gerade sehr, sagt er, „da werden viele Dinge infrage gestellt, auch die Medien“. Stuttgart 21 ist für ihn „ein Nährboden, der solche Prozesse beschleunigt“. Puttenat, 36, ist Filmkomponist und Musiker und ausdrücklicher Gegner von Stuttgart 21 – wie fast alle in der Redaktion. „Ich demonstriere seit zwölf Monaten, ich habe eine klare Position, das heißt aber nicht, dass ich manipulativ werden muss“, sagt er. Ähnlich argumentiert die Redaktion der neu gegründeten Zeitschrift Einundzwanzig, die gerade zum vierten Mal und in einer Auflage von 50.000 erscheint. Kostenlos. Sie wird gemacht von freien Journalisten, die vom Abriss des Nordflügels entsetzt waren. Und „immer mehr verärgert“ sind über die etablierten lokalen Medien, aus denen sie mehrheitlich kommen, wie Redaktionsmitglied Michaele Heske sagt. Publizistisches Ziel ist die Verhinderung von S 21. Aber Zahlen und Inhalte sollen stimmen.
Die einen sind also objektiv dafür, die anderen objektiv dagegen. Jeweils aus ihrer Sicht.
Der Nährboden des Neuen ist aber ganz eindeutig der Vertrauensverlust in die Objektivität der SWMH-Blätter. Der Trierer Medienwissenschaftler Hans-Jürgen Bucher sieht das Hauptproblem der Etablierten in dem „klassischen Bewusstseins-Gap alter Medien“. Seine Diagnose: „Der Transfer in die Social-Media-Welt wird nicht angepackt. Und dieses Defizit gilt für SWR, StN und StZ.“ Um den neuen Bedürfnissen zu genügen, brauche es „interaktiven Journalismus“, mehr also als eine Kommentarfunktion. „Man kann dann aber nicht mehr die Diskurshoheit beanspruchen – und das wollen die klassischen Medien nicht aufgeben“, sagt Bucher. So sie denn überhaupt das Know-how hätten. Den klassischen Medien geht es demnach – nicht nur in Stuttgart – wie derzeit der CDU: Sie finden keinen Zugang zu einer zentralen Veränderung der Gesellschaft und ihrer Kundschaft. Und hoffen, dass sich deren Mitmischgelüste irgendwann wieder legen.
■ Der Autor ist taz-Chefreporter