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Archiv-Artikel

Soll man Kindern Süßes verbieten?JA

VERSUCHUNG Das Dilemma der Adventszeit: Zucker macht nicht nur dick, zu viel davon macht auch krank. Andererseits versprechen Schoko-Nikoläuse und Lebkuchen Glücksgefühle

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Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen interessante LeserInnenantworten aus und drucken sie in der nächsten sonntaz.taz.de/sonntazstreit

Udo Walz, 66, ist Promi-Friseur und macht aus seiner Zuckerkrankheit kein Geheimnis

Industriezucker ist gefährlich, er macht krank und sorgt für schlechte Zähne. Sogar Kinder leiden heute an Diabetes. Deshalb sollten Eltern Süßkram streng reglementieren. Ich würde Süßigkeiten nur an Sonn- und Feiertagen erlauben. Am besten ist, wenn sie nur schwarze Schokolade essen, mit 98 Prozent Kakao. Ich bin auf dem Lande groß geworden und war nie krank, weil es immer viel Obst und Gemüse gab. Dann bin ich vor 20 Jahren an Diabetes erkrankt. Ich glaube, dass ein Schock die Krankheit ausgelöst hat – ein guter Freund war gestorben. Ich weiß nicht mehr, ob ich damals so ungesund gelebt habe. Jedenfalls kommt bei mir heute nur Gesundes auf den Tisch, viel Eiweiß und wenig Kohlenhydrate. Gummibärchen würde ich nie essen.

Ulrich Bahnsen, 51, ist Wissenschaftsredakteur der Zeit und Molekularbiologe

Dass die Zucker- und Lebensmittelindustrie es inzwischen geschafft hat, aus dem Zeug ein Grundnahrungsmittel zu machen, ist zwar eine bemerkenswerte Marketingleistung. Aber es ist gefährlich. Viel zu viel Zucker steckt verborgen in unseren Lebensmitteln und hat dort nichts zu suchen. Softdrinks sind kein Erfrischungsgetränk, sondern eine Zuckerlösung am Rande der chemisch möglichen Sättigung. Fruchtjoghurt hat typischerweise nie Frucht gesehen, aber wieso müssen in einem 200-Gramm-Becher stattdessen fast 40 Gramm Zucker versteckt sein? Und in Fertigpizza, Wurst, Müsli? Es ist ein kulinarischer Graus. Und eine gesundheitliche Zeitbombe. Es macht Kinder dick und Erwachsene fett, insulinpflichtig und gelenkversehrt. Der menschliche Körper braucht überhaupt keinen Zucker in der Nahrung. Was er benötigt, stellt er leicht selbst her – indem er Fett verwertet. Also liebe Supermuttis, -vatis und -nannies: Die täglichen fünf Euro an die Sprösslinge für Burger und Coke gehören verboten. Lasst den Kindern zu Weihnachten ihre Schokolade. Süßigkeiten – ab und zu! – machen weder krank noch dick. Denn Zucker ist ein Genussmittel, eigentlich nur ein Gewürz und wurde früher auch so verwendet. Der bunte Teller am Heiligabend ist erlaubt. Bedingung: Lehrt Kinder das Selberkochen – ohne Zucker.

Tilo Vetter, 47, leitet die Finow-Europa-Grundschule in Tempelhof-Schöneberg

In der Finow-Grundschule sind Süßigkeiten verboten. Wir glauben, dass sie nicht zu einer gesunden Lebensweise passen. Und die steht im Mittelpunkt unseres ökologischen Schulkonzepts. In der Ökoteria gibt es keine Fertigprodukte, sondern nur frisch zubereitete Pausensnacks. Zum Süßen nehmen die Kinder Honig – in Maßen. Sie lernen dort auch, sich selbst eine leckere Mahlzeit zu zaubern. Weihnachten machen wir aber eine Ausnahme – schließlich kommt ohne Plätzchen gar keine richtige Stimmung auf.

Joachim Nock, 46, Gesundheitsberater, hat das Thema auf taz.de kommentiert

Süßkram macht den Menschen also glücklich? Nun ja, Heroin und Zigaretten tun das auch. Der Vergleich mag deplatziert erscheinen. Doch Fabrikzucker ist aufgrund seiner Konzentration und Isolation ein Schadstoff, der seit fünf Generationen zusammen mit den Auszugsmehlen die Hauptursache für 80 Prozent der chronischen Krankheiten darstellt. Genau wie Drogen macht Fabrikzucker süchtig, mit demselben Mechanismus: Es bilden sich körpereigene Endorphine, die an dieselben Rezeptoren im Gehirn andocken. Es hilft ein kalter Entzug – dauert bei Fabrikzucker nur ein paar Tage. Oder man isst süße Früchte als „Ersatzdroge“. Ein Verbot der Werbung wäre eigentlich wünschenswert. Doch ob das etwas bringt, ist fraglich. Viel wichtiger ist die Aufklärung.

NEIN

Ilse Aigner, 46, Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz

Die Vorliebe für Süßes ist den meisten Menschen angeboren, die Zurückhaltung beim Essen aber wohl nur den wenigsten. Vor allem bei kalorienreichen Süßigkeiten ist es geboten, auf die Menge zu achten. Den richtigen Umgang mit Naschereien muss man jedoch lernen – strikte Verbote helfen da nicht weiter. Statt ständig mit dem erhobenen Zeigefinger durch die Welt zu gehen, sollten Eltern ihren Kindern beibringen, selbständig zu entscheiden und bewusst und in Maßen zu genießen. Aber auch Kitas und Schulen sind gefordert: Betreuungseinrichtungen, in denen sich Kinder viele Stunden eines Tages aufhalten, sollten besonders auf das Verpflegungsangebot achten. Schulkioske, in denen es nur Süßigkeiten gibt, aber kein Obst, sind sicherlich der falsche Weg. Den Eltern fällt bei der Ernährung ihrer Kinder jedoch eine Schlüsselrolle zu. Denn sie sind es, die letztlich entscheiden, welche Lebensmittel gekauft werden, was zu Hause auf den Tisch kommt und ob sich ihre Kinder gesund ernähren.

Peter Lustig, 73, Rundfunktechniker, Toningenieur und Welterklärer im Fernsehen

Nein! Um Himmels willen, was für eine Grausamkeit! Denken Sie doch mal an leckere dunkle Schokolade, an Kognakbohnen, an in Goldpapier eingewickelte Pralinen, an ein Erdbeereis an einem heißen Sommertag. Haben Sie den Geschmack schon auf der Zunge? Sehen Sie! Und solche Köstlichkeiten wollen Sie Ihren Kindern verwehren? Ihr Geschmackssinn, so wie Ihrer auch, gehorcht der Biologie, dem Körper, und der will Zucker! Nun war dieser Energiespender jahrtausendelang nur im Obst zu finden – das genügte und war gesund. Jetzt aber, nachdem die Süßwarenindustrie in die Evolution eingegriffen hat, ist unsere Gier nach Zucker fehlgeleitet: Wir konsumieren zu viel von reinem Zucker. Dicke Kinder und Karies sind die Folge. Die Vorliebe für Süßes aber ist ganz natürlich – ich kann sie den Kindern nicht übel nehmen. Auch nicht die Vorfreude auf versüßte Weihnachten. Lasst sie also ruhig ein bisschen Zucker schlecken – aber wohl dosiert!

Elisabeth Pott, 61, ist seit 25 Jahren Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

Nein, strenge Verbote sind fehl am Platz. Sie erhöhen eher den Reiz des Süßen, als dass sie ihn senken. Kinder, die zu Hause keine Süßigkeiten bekommen, können immer noch bei Freunden naschen oder sich Süßes im Supermarkt besorgen. Wenn Eltern ein gesundes Essverhalten fördern möchten, sollten sie für geregelte und abwechslungsreiche Mahlzeiten sorgen. Wer regelmäßig und in Gemeinschaft isst, entwickelt seltener Heißhunger auf Süßes. Am wichtigsten ist die Rolle der Eltern als gute Vorbilder für ihre Kinder. Wenn sie selbst nicht ständig naschen, dann verzichten auch Kinder eher darauf. Wichtig ist auch, dass Eltern ihren Kindern verschiedene Lebensmittel und Speisen anbieten, um so ihren großen Energie- und Nährstoffbedarf im Wachstum abzudecken. In kleinen Mengen können da auch Süßigkeiten dazugehören. Daher die klare Empfehlung: Süßes in Maßen zulassen.

Christine Neu- bauer, 48, Schauspielerin, bezeichnet sich gern als „Vollweib“

Ein striktes Verbot ist falsch, weil der Reiz des Verbotenen die Lust auf Süßes nur erhöht. Schokolade sollte kein Tabu sein, aber man muss Kindern von Anfang an den richtigen Umgang mit Essen vermitteln. Die Eltern sind dafür verantwortlich, ein gesundes Essverhalten vorzuleben. Ein Kind, das von klein auf daran gewöhnt ist, sich gesund zu ernähren, wird einen Nikolaus aus Schokolade genießen, gleichzeitig aber auch einen frischen Obstsalat zu schätzen wissen. Genuss und gesundes Essen schließen sich nicht aus.