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Archiv-Artikel

1. MAI IN KREUZBERG Fremd geworden

Vom Balkon aus kommt einem eh alles eher lächerlich vor

Am Nachmittag am 1. Mai: In der Oranienstraße war es wie bei einem schlechten Love-Parade-Jahrgang, am Mariannenplatz alles wie immer; wirklich gut war die Stimmung eigentlich nur auf dem Platz rechts neben dem Engelbecken gewesen. Längst war ich wieder zu Hause. Es war schon Abend, als die Demo an dem Haus, in dem ich wohne, vorbeizog. Sprechchöre skandierten irgendwas mit „antifascista“. Ich ging auf den Balkon und sah vier oder fünf Demonstranten dabei zu, wie sie auf die Pflanzen der kleinen Vorgärten vor den Hauseingängen pissten. Während die Demonstranten in ihrem traditionellen Outfit vorbeizogen, erinnerte ich mich an die schöne 1.-Mai-Demo vor genau zwanzig Jahren, mit der KPD-RZ, als wir abends ungefähr die gleiche Route genommen hatten und „Für nächtliche Ruhestörung – gegen sinnlose Gewalt“ bzw. „Für sinnlose Gewalt – gegen nächtliche Ruhestörung“ und „Ich will schlafen“ skandiert hatten.

Die Demo, die jetzt vorbeizog, war aber eher humorlos. Die drei oder vier verschiedenen Slogans, die immer wieder gerufen wurden, konnte ich nicht verstehen. Alles kommt einem hier, vom Balkon aus, eh ein bisschen lächerlich vor.

Auf der Skalitzer gab es eine Zwischenkundgebung. Es ging wohl darum, dass alles immer schlechter wird, der böse Feind immer bösartiger, und dass dem entschlossen begegnet werden müsse. Es gab, glaube ich, sogar Anti-SPD-Chöre. Eine hysterische Frauenstimme möchte der deutschen Politik zeigen, was wir von ihr halten, das wird dann von einer angenehmeren Stimme noch mal auf Türkisch vorgetragen, dann gibt es eine historische Aufnahme der „Internationale“; einige singen wohl auch mit; aber nicht viele. Später noch ein bisschen Polizeisirenen, Rumgeknalle, Hubschrauber von Weitem. Mir ist das alles ziemlich fremd geworden.

DETLEF KUHLBRODT