piwik no script img

taz FUTURZWEI

Kommentar zur Mitte Ist Vernunft over?

Alle reden von der „Mitte“ der Gesellschaft als Ort, an dem die Mehrheit und die Vernunft zusammenkommt. Unsinn: Die Mitte ist öde, verschnarcht und zukunftsfrei.

Formulierte als Erster das Plädoyer für Maß und Mitte: der antike Philosoph Aristoteles (rechts) Foto: wikimedia commons

„Ist die politische Mitte die denkmüde, reflexionsarme Ausrede in einer Situation allgemeiner Erschöpfung all jener Kräfte und Energien, die Politik aus dem Geiste des Utopischen entwarfen und sich vom Prinzip Hoffnung geleiten ließ? Ist sie nur eine Chiffre für allzu geschmeidige Anpassung, für die Saturiertheit des Status quo, für die phantasieträge Hartnäckigkeit der Unbeirrbaren und Verblüffungsfesten?“

- Kurt Lenk: „Vom Mythos der politischen Mitte“. Politik und Zeitgeschichte (2009).

taz FUTURZWEI | Diese Fragen Kurt Lenks beschreiben die politische Hilflosigkeit und die geistige Öde aller Parteien. Sie versuchen sich mit der Erfindung einer Mitte, die es als gesellschaftliche und soziale Formation gar nicht gibt, und dem Beschwören dieser fiktiven Mitte als Ort des Ausgewogenen, davor zu drücken, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen, eine Welt ohne das Prinzip Hoffnung und einer Fülle von Bedrohungen.

Sie verschleiern mit ihrem Gerede von „Maß und Mitte“, dass sie auf die großen Fragen des 21. Jahrhunderts nicht mehr anzubieten haben als sich selbst, handwerkelnde Machtcliquen. Sie bieten nicht mehr als das, was es gestern schon gab oder das Konservieren des Status Quo.

Bild: privat
Über den Autor

Udo Knapp ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.

Dabei könnten „Maß und Mitte“, nach Aristoteles als Prinzip verstanden, durchaus gestaltend wirken, wenn sie als Teil des antagonistischen Ringens um Entscheidungen und das Wählen in diskursiv verfassten Strukturen begriffen würden. „Maß und Mitte“ sind kein Selbstzweck, kein vernünftelndes Sedativum zur Mehrheitsbeschaffung. Ihr Gebrauch könnte Raum für unerwartete Antworten und ein Fehler-Bewusstsein für alle aktuellen Fragen des gemeinsamen Existierens schaffen.

„Maß und Mitte“ werden indes von den sich jeweils neu formierenden Rändern bestimmt. Sie setzen die Leitplanken für den politischen Kampf um „Maß und Mitte“. So war es zu Zeiten von Faschismus und Kommunismus. Der Zwang, eine gemeinsame militärische Antwort zum Niederringen beider Freiheitsfeinde zu finden, hat zumindest vorübergehend, in den westlichen Gesellschaften „Maß und Mitte“ als offenem politischen Streit Raum verschafft.

Nochmal: „Maß und Mitte“ sind nicht zu verwechseln mit dem heute üblichen, glorifizierenden Konsensgerede einer sich selbst genügenden, vernünftelnden politischen Elite.

„Maß und Mitte“ können ihre konstruktive Wirkung nur entfalten, wenn sie Teil eines politischen, mit offenem Visier ausgetragenen Streits antagonistischer Positionen sind, die vom Blick auf die Wirklichkeit bestimmt sind.

Die neue taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°33: Wer bin ich?

Der Epochenbruch ist nicht mehr auszublenden. Mit ihm stehen die Aufrüstung Deutschlands und Europas im Raum, Kriege, Wohlstandverluste, ausbleibender Klimaschutz. Muss ich jetzt für Dinge sein, gegen die ich immer war?

Mit Aladin El-Mafaalani, Maja Göpel, Wolf Lotter, Natalya Nepomnyashcha, Jette Nietzard, Richard David Precht, Inna Skliarska, Peter Unfried, Daniel-Pascal Zorn und Harald Welzer.

Jetzt im taz Shop bestellen

Der Stanford-Intellektuelle Hans Ulrich Gumbrecht hat soeben (in der NZZ) den Versuch unternommen, diese neue Wirklichkeit zu beschreiben.

„Die früher zur Verwirklichung von Menschheitsprojekten offen gehaltene Zukunft ist durch ein Panorama vielfältiger auf uns zukommender Bedrohungen ersetzt, von ökologischen Krisen bis zur Versklavung durch künstliche Intelligenz. Statt, wie im historischen Weltbild als Phase einer Entwicklung zu erscheinen, dehnen sich die vor der angesagten Katastrophenzukunft liegende Gegenwart und die Vergangenheit zu einer ebenso komplexen, wie verwirrenden Sphäre zentrifugaler Impulse und Initiativen aus.

In diesem Weltbild unter der vor uns liegenden Bedrohung ist jede Vergangenheit wiederholbar, wie sie Trumps MAGA -Bewegung verspricht, während für positive Zukunftsvisionen kein Raum mehr bleibt.“

Gumbrecht identifiziert einige Hauptmerkmale für diesen zukunftsfeindlichen Zustand der Weltgesellschaft. 1. In der ungeregelten Sphäre zentrifugaler Impulse durch parallele Bedrohungslagen gelten alle auf Zukunft ausgerichteten Normvorstellungen und Werte nicht mehr. Alle auf diese Werte ausgerichteten Institutionen geraten unter Druck. An die Stelle auf Zukunft ausgelegter Regeln tritt das Herrschen und das Verhandeln ohne jede Berücksichtigung historisch begründeter Werte.

2. Künstliche Intelligenz ist durch das seit 2012 unreguliert durchgeführte „Deep Learning“ zu einer einschüchternden Konkurrenz für den menschlichen Geist geworden, der schon bald in jeder Hinsicht vom Rechner überholt werden wird. Das „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) von Descartes gilt dann nicht mehr.

3. Schwere körperliche Arbeit verschwindet. Der Status des Körpers wandelt sich vom Instrument der Produktion von Gegenständen zum Gegenstand ästhetischer Freude in extremer antigesellschaftlicher Selbstbezogenheit. (Beispiel: die lustvolle Verbreitung des Tätowierens von Körpern).

4. Die demographische Krise: statt einer steigenden Weltbevölkerung, wie bisher, ist von ihrem Rückgang auszugehen, begleitet von der Konvergenz fallender Geburten und zunehmendem Lebensalter.

Die Frage ist, sagt der Soziologe Heinz Bude im Tagesspiegel, wie vor diesem Hintergrund eine „politische Ökonomie und Technologie der nächsten Welt entwickelt werden kann, die die Staatsbedürftigkeit erkennt und anerkennt. Übergangstechnologien, Netzwerklösungen und Versorgungssicherheit sind die zu lösenden politischen Aufgaben, die den aktuellen politischen Eliten noch eher fremd sind.“

Die Frage auf die Lenk, Gumbrecht und auch Bude keine Antwort geben, ist, ob der rationale, der vernünftige Blick auf die Herausforderungen einer sich neuformierenden, globalen Zivilisation ausreicht, um daraus politisches Handeln zu destillieren, das Mehrheiten bilden, binden und beteiligen kann.

Rationalität, Vernunft und politischer Wettstreit um die richtigen Wege allein sind in der Regel gegenüber populistischen Vereinfachungen und Versprechungen eher im Hintertreffen. Offen bleibt, wie dennoch kollektive Bedürfnisse nach einer besseren Welt neu begründet werden können.

Das Versprechen von „Maß und Mitte“, reduziert auf seinen instrumentellen Charakter als Herrschaftstechnik, kann kaum dazu beitragen den von allen Utopien leergeräumten öffentlichen Raum sinnstiftend zu besetzen.

🐾 Udo Knapp ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.

🐾 Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe unseres Magazins taz FUTURZWEI N°33 mit dem Titelthema „Wer bin ich?“ gibt es jetzt im taz Shop.